7 Gründe, warum dein Kind lügt und wie du am besten darauf reagierst
Die Wahrheit ist: Kinder lügen. Du denkst: Dein Kind nicht – ihr habt schließlich eine tolle Beziehung? Nope. Auch wenn du glaubst, dein Kind spricht mit dir offen über alles. Spätestens wenn es in die Pubertät kommt, wird es dich anlügen.
Jeder lügt. Ich. Du. Wir alle lügen ab und zu. Von allen Schandtaten, derer wir uns schuldig machen, ist Lügen die häufigste. Wissenschaftlich erwiesen.
Du machst dir im Alltag keine Gedanken darüber, weil es manchmal schon fast automatisch abläuft.
Warum beurteilst du die Lügen deines Kindes also als eine schwerwiegende Sünde? Als großes Drama? Hast du vielleicht das Gefühl, du hättest in der Erziehung versagt, wenn dein Kind Ehrlichkeit nicht als große Tugend aufgesogen hat? Oder nimmst du es persönlich und bist verletzt, wenn dein Kind dich anschwindelt? Oder verunsichert es dich, wenn du nicht mehr weißt, was in deinem Kind wirklich vorgeht?
Schauen wir uns in diesem Artikel zwei Themen genauer an:
- Warum lügen Kinder? 7 Gründe für Unehrlichkeit bei Kindern und Jugendlichen
- Wie sollte ich darauf reagieren? Wie Vertrauen und der Abschied von Werturteilen helfen
Alle Kinder lügen, alle Erwachsenen auch. Es ist toll, wenn wir es nicht tun, denn das gibt uns eine größere Chance auf einen aufrichtigen Dialog und echte Intimität. Aber letztendlich lügen wir alle ab und zu, und wir sollten unsere Kinder nicht wie die größten Sünder behandeln, wenn sie es auch tun.
Perry, S. 246.
Zwei Arten von Unwahrheiten
Seien wir ehrlich, in unserer Kultur gibt es zwei Arten von Lügen: Gesellschaftlich erlaubte und allgemein nicht akzeptierte Lügen. Authentizität ist in aller Munde und trotzdem senden wir unseren Kindern unterschiedliche Botschaften: Wir bläuen ihnen ein, ehrlich zu sein, fordern sie aber auch dazu auf, so zu tun, als ob sie sich über die hässlichen Klamottengeschenke von Großtante Anni freuen.
Wenn du dir darüber überhaupt im Klaren bist, ist das eine tolle Sache. Dann erkennst du nämlich, dass es für Kinder erst mal schwer zu durchschauen ist, wann sie lügen dürfen und wann nicht.
Du lügst
Dein Kind bekommt außerdem ständig mit, wie du lügst: Letzte Woche hast du vielleicht telefonisch eine Familienfeier abgesagt unter dem Vorwand, verplant zu sein. In Wahrheit hattest du einfach keine Lust dazu.
Manchmal bekommt es das vielleicht auch nicht mit, du lügst es trotzdem an: Leider habe ich keine Süßigkeiten mehr da! Die Oma kann heute leider nicht, sie muss arbeiten! Ich habe versucht, einen Tisch zu reservieren, aber das Kindercafé hat an diesem Tag leider zu!
Vor dem Hintergrund dieser beiden Fakten kann dein Kind die Botschaft „Ich bin immer ehrlich zu dir“ nicht wirklich verinnerlichen. Es hat permanent Zugang zu deiner inneren Haltung und merkt unbewusst schon von Anfang an, ob du aufrichtig und authentisch bist oder häufig Tricks und Schwindeleien benutzt.
Lügen ist eine komplexe Fähigkeit
Ein Kind muss sich dazu eine alternative Wirklichkeit ausdenken – es muss parallel die „wirkliche“ Wirklichkeit und die „Alternative“ im Kopf speichern. Es muss sie gut unterscheiden können und dann auch noch – was echt eine Leistung ist – vorausdenken, was sein Gegenüber eigentlich weiß und denkt.
Bis Vier können Kinder das in der Regel nicht besonders gut. Wenn sie Phantasiegeschichten erzählen, stellt es eher ein harmloses (und für die Entwicklung sogar wichtiges) Spiel dar.
Danach wird es plötzlich zur geheimen Superpower: „Wie cool, ich kann etwas frei erfinden und man glaubt mir!“
Warum lügen Kinder überhaupt?
Weil Eltern es mit ihrer Haltung provozieren
Jesper Juul schreibt, ein Kind lügt besonders dann, wenn es weiß: die Eltern würden die Wahrheit nicht vertragen. Philippa Perry sieht es änhlich:
Nicht selten lügen Kinder, weil die Erwachsenen in ihrem Leben die Wahrheit nicht ruhig und unvoreingenommen anhören würden.
Perry, S. 247.
Wenn dein Kind dich in einer bestimmten Situation belügt und du es herausfindest, dann frag dich ehrlich: Wie hätte ich auf die Wahrheit reagiert? Wäre diese Reaktion fair gewesen? Wie hätte ich mich als Kind in der gleichen Situation verhalten? Wie hätte ich mich mit so einer Reaktion gefühlt?
Weil Kinder Unannehmlichkeiten verhindern wollen
Manche Kinder sind unehrlich, weil sie keine andere Möglichkeit sehen, sich aus Schwierigkeiten herauszuwinden, oder Konsequenzen zu umgehen. Besonders wenn Strafen eine gängige Erziehungsmethode in deiner Familie ist, beginnen Kinder zu lügen. Sie nehmen ihren Fokus weg von der eigentlichen Sache und konzentrieren sich mehr auf die Konsequenzen, die ihr Verhalten auf sie hat. Lies mehr über die destruktiven Folgen von Strafen in: Bedingungslose Liebe zeigen ohne Strafen und Belohnen.
Weil ihnen emotionale Nahrung fehlt
Manche Kinder wollen mit Schwindeleien, extremen Übertreibungen, Prahlereien und Phantasiegeschichten auch schlichtweg Eindruck machen, den Erwachsenen gefallen und Aufmerksamkeit erregen. Dann ist ein elementares Bedürfnis nach Wertschätzung und Anerkennung nicht befriedigend erfüllt.
Schau genauer hin und frage dich: Welche emotionale Nahrung könnte meinem Kind fehlen? Welches Bedürfnis steckt wirklich hinter den aufmerksamkeitsheischenden Storys? Vielleicht bist du in eurem gemeinsamen Beisammensein oft abwesend? Gedanklich woanders? Vielleicht lobst du mehr beiläufig als wertschätzend im Hier und Jetzt mit deinem Kind die Zeit zu verbringen?
Oft hat ein Kind Prahlen und Schwindeln nicht mehr nötig, wenn seine grundlegenden emotionalen Bedürfnisse gestillt sind.
In diesem Fall ist die nervige Aneinanderreihung von einer Lügenstory an die nächste haarsträubende Geschichte aktuell noch das kleinste Problem.
Nora Imlau schreibt: „Gestillte Bedürfnisse gehen irgendwann. Unerfüllte begleiten uns ein Leben lang.“ Die elementaren Bedürfnisse nach bedingungsloser Liebe, Wertschätzung und einem gewissen Maß an authentischer Aufmerksamkeit ist für seine psychosoziale Entwicklung unglaublich wichtig.
Weil sie ihre Gefühle nicht anders ausdrücken können
Manchmal erzählt dein Kind eine Lügengeschichte, die eine Art sprachliches Bild für seine reale innere Not ist.
Gerade kleine Kinder haben noch nicht das Reflexionsvermögen und die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, um 100% auszudrücken, was in ihnen vorgeht.
Beispiel:
Die Erzieherin fragt Emma, warum sie heute so traurig ist. Sie antwortet: „Mein Wellensittich ist tot!“ Im Gespräch mit der Erzieherin am Nachmittag erklärt Emmas Mutter – sie hatten noch nie einen Vogel. Es stellt sich aber heraus, dass ein entfernter Verwandter gestorben ist, was die Mutter sehr beschäftigt hat – und das wiederum kam Emma bedrohlich vor im Sinne von: Was ist bloß mit meiner Mama los? Der tote Vogel ist ein Symbol für ihre eigene Verunsicherung über Mamas Trauer.
Es kann für ein Kind einfacher sein, an einer Fantasie festzuhalten, als mit der Wahrheit umzugehen, und das müssen wir respektieren. Je häufiger wir unsere Gefühle und die Gefühle unserer Kinder in Worte fassen*, desto seltener müssen sie lügen, um uns ihre emotionale Wahrheit nahezubringen. Es braucht Jahre, um das zu lernen.
Perry, S. 248.
*Mehr darüber, wie du die Gefühle deines Kindes akzeptieren und benennen kannst, erfährst du in einem meiner wichtigsten Artikel: Wie gehe ich mit großen Gefühlen meines Kindes richtig um?
Wenn Kinder ihre Phantasie zur Selbstberuhigung benutzen, solltest du versuchen, die dahinter stehenden Gefühle zu ergründen.
Weil sie Freiheit und Privatsphäre suchen
Ältere Kinder und Jugendliche lügen, um Freiheit zu gewinnen.
Belehr mich gerne in den Kommentaren, wenn es bei dir anders war, aber ich glaube: Alle Jugendlichen lügen ihre Eltern an, um auf Partys, Treffen oder Veranstaltungen zu gehen, für die sie sonst keine Erlaubnis bekommen hätten.
Kira sagt: „Mama, ich übernachte bei Nele.“
Nele sagt: „Mama und Papa, ich schlafe bei Kira.“
Und dann treffen sie sich heimlich zum ersten Alcopop bei Flori und Paul, deren Eltern im Urlaub sind.
Sie eröffnen sich damit einen Handlungsspielraum, der anders nicht möglich gewesen wäre und entlassen sich selbst früher in die Freiheit, als es den Eltern lieb ist.
Bitte nicht überreagieren!
In diesem Falle ist Überreagieren deswegen so schädlich, weil du damit die Kommunikationswege zu deinem Kind verbauen kannst. Für die Zukunft – also euer weiteres Vertrauensverhältnis – ist es am gesündesten, keine Staatsaffäre daraus zu machen, die Sache anzunehmen, einzuordnen und knapp und kurz zu deiner Sicht auf die Dinge zu stehen.
War es schlecht, weil es illegal war? Weil Lügen einen Tabubruch darstellen? Weil es gefährlich war? Ungesund? Verwerflich?
Möglich.
Aber die Wahrheit ist vielleicht viel eher: Es war deswegen so dramatisch, weil DU Angst hast.
Wenn du deine Gefühle authentisch zeigst und offen mitteilst, bist du das beste Vorbild, das dein Kind haben kann. Sich hinter Fakten zu verstecken, ist übrigens in jedem Streit kontraproduktiv. Wenn du wissen willst warum, schau hier mal vorbei: Wie streiten Eltern richtig?
Fakt ist, dass Jugendliche mit Lügen gerne ihre Privatsphäre schützen. Und diese brauchen sie, um ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Wenn sie die Wahrheit frisieren oder Geschichten erfinden – ist das normaler Bestandteil ihrer Entwicklung. Versuch, gelassen zu bleiben. ♥
Warum es so ungeheuer wichtig ist, das Vertrauen deines Kindes nicht zu zerstören
Wie bei allen Schwierigkeiten im Leben einer Familie, rate ich dringend dazu, die Beziehung an erste Stelle zu stellen und sich zu bemühen, alle Kommunikationswege offen zu halten – von der Geburt bis ins Erwachsenenalter.
Dein Kind soll immer das Gefühl haben: Ich kann mich dir mit allem anvertrauen. Auch wenn du es für unangemessen, frech, unmoralisch, falsch oder albern hältst.
Warum? Du sollst für dein Kind die sicherste Person sein. Der Quell des Vertrauens. Das Zentrum schlechthin. Wenn du das nicht bist – an wen wendet sich dein Kind dann, wenn die unangemessenen Berührungen des Klavierlehrers, von dem du so viel hältst, es quälen? Wem kann es sich dann öffnen, wenn subtiles Mobbing in der Schule Alpträume und Minderwertigkeitsgefühle verursachen?
Wie gehen wir also am besten mit Lügen um?
Beurteilungen ade
Halte dich deshalb so oft, wie du kannst, mit Beurteilungen zurück. (Auch Lob ist ein Urteil: Lies mehr dazu hier: Bedingungslose Liebe zeigen ohne Lob.) Niemand mag es, verurteilt, kritisiert oder eingeschubladet zu werden. Dein Kind genauso wenig wie du selbst. Es ist sinnvoller, gemeinsam mit Kindern nach Lösungen zu suchen, anstatt sie mit gut gemeinten Ratschlägen und Besserwissereien zu malträtieren. Nur wenige Angewohnheiten ruinieren euer Vertrauensverhältnis schneller als Nörgeln, Besserwissen und Beratschlagen. Auch wenn das verlockend ist. Das weiß niemand besser als ich. (Meine Oma nannte mich schon mit Zwei Klugscheißer.)
Schenken wir stattdessen endlich unseren Kindern das Vertrauen, das sie verdienen. Alles andere ist eine Entmachtung. Hui. Nicht schön.
Wenn sie ein Resonanzboden sind und nicht immer ein Orakel, dann wird Ihr Kind Ihnen eher weiterhin die Wahrheit sagen.
Wenn ein Kind lügt […], betrachten sie die Gründe und Gefühle hinter dieser Lüge […], statt direkt zu reagieren.
Perry, S. 251.
Die Wurzel des Problems
Gehen wir also einfach mal über den Fakt hinaus, dass dein Kind gelogen hat. Fragen wir uns: Was ist der Kern des Problems? Was fehlt im Leben deines Kindes? Oder was ist mit ihm geschehen? Warum braucht es so dringend Sympathien? Warum braucht es unbedingt die Aufmerksamkeit? Und besonders: Was ist denn bitte los, dass es auf so umständliche Weise, Aufmerksamkeit und Anerkennung erkämpft?
Was auch immer, Lügen ist aber trotzdem FALSCH
Denkst du so? Tja. Von mir aus. Das ist dein moralisches Urteil. Aber lass dir sagen: Eine moralische Beurteilung macht dein Kind auch nicht ehrlicher. Es ist halt ein Mensch. Wissenschaftlich erwiesen ist stattdessen der Fakt, dass moralische Urteile, wie schlecht, unhöflich, das macht man nicht und böse, böse! Kinder einfach nur dazu bringen, besser zu lügen.
Victoria Talwar fand in Experimenten heraus, dass gerade harte Strafen gegen das Lügen hocheffektive Lügner erschaffen. Je härter das Urteil, je drastischer die Strafe, umso überzeugender schwindeln Kinder.
Tja. Und ich glaube, das ist nicht dein Ziel.
Zudem sind Strafen und Verurteilen immer beziehungsschädigend: Die Wahrscheinlichkeit, dass du das Vertrauen deines Kindes verspielst, ist riesig. Ein hoher Preis.
Also Tschüss, Moral. Hallo, Empathie!
In a nutshell
Alle Kinder (alle Menschen) lügen. Aus verschiedenen Gründen. Kinderlügen haben in der Regel eine dieser Ursachen:
- fehlendes Vertrauen zu dir
- wenn du die Wahrheit nicht ertragen könntest oder hören willst (unbewusst)
- bestimmte Entwicklungsphasen
- Imitation deines Verhaltens
- Kampf um Privatsphäre
- um Gefühle zu verbalisieren
- um Strafen oder Unangenehmes zu verhindern
Wenn Lügen, Phantasiegeschichten und erfundene Storys für ein Problem stehen, dann lös mit deinem Kind zusammen lieber das Problem, anstatt dich auf die Unwahrheiten zu versteifen. Herauszufinden, was das eigentliche Problem ist verbessert die Lage für alle – Strafen verschlechtert sie. Mach dir das bewusst, wenn nächstes Mal dein inneres moralisches Urteil als erstes präsent ist. (Fangfrage by the way: Woher kommt das eigentlich?)
Je mehr Sie urteilen und strafen, desto höher ist das Risiko, dass Ihr Kind Ihnen nicht mehr vertraut. Es wird immer noch um Ihre Zustimmung buhlen, aber es wird dabei auf Ehrlichkeit verzichten und sein wahres Selbst verbergen, vielleicht auf Kosten seiner seelischen Gesundheit.
Perry, S. 253.
Also stell dich drauf ein: Dein Kind wird lügen. Mach kein Drama draus. Pfleg stattdessen eure Beziehung.
Was dir dabei enorm helfen kann, ist das Buch von Philippa Perry, das ich hier so oft zitiert habe. Wahnsinnsfrau. Herzensbuch.
Das Buch, von dem du wünschst, deine Eltern hätten es gelesen (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast)* – selbsterklärend. Lies es. ♥
Ehrliche Grüße
Anne
PS: Kennst du noch andere Eltern, die Probleme mit der Unehrlichkeit ihrer Kinder haben? Oder die sich mit ihren moralischen Urteilen schwertun? Leite ihnen doch gerne den Artikel weiter, um ihnen Druck und Konflikte zu ersparen. 🙂
Literatur:
- Perry, Philippa: Das Buch, von dem du wünschst, deine Eltern hätten es gelesen (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast)*, Ullstein 2020
Mein Kind schwindelt, lügt und flunkert - was tun? - Fitness Sport und Gesundheit
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