Prävention von sexualisierter Gewalt: Wie schütze ich mein Kind vor Kindesmissbrauch?
Du kannst deine Tochter zum Selbstverteidigungskurs schicken, jepp. Du kannst außerdem versuchen, deinem Sohn mit Lob zu stärken. Ja. Du kannst deinen Kindern auch Angst vor „Fremden“ machen und sagen, sie sollen mit niemandem mitgehen. Kannst du alles machen, klar.
Ich verrate dir aber was: Das wird herzlich wenig bringen.
Wenn du dein Kind schützen willst, damit es nieniemals im Leben Opfer sexualisierter Gewalt wird? Dann musst du andere Register ziehen.
Kinder vor sexuellem Missbrauch schützen
Willkommen bei WELTFREMD und wie GUT, dass du dein Kind vor Missbrauch schützen willst. Ich verrate dir heute:
- Was kindliche Sexualität ist
- Wo sexueller Missbrauch beginnt
- Mit welcher Erziehungsphilosophie du Missbrauch vorbeugst
- Wie du mit deinem Kind über Kindesmissbrauch sprechen kannst
- Wie gerade Väter mit positivem Körperkontakt vorbeugen können
- Was die Gesellschaft endlich verstehen muss
Auf dass dieser Artikel ein kleiner Schritt gegen Missbrauch sein möge. ♥
Kinder sind sexuelle Wesen
Ein Mensch ist von Geburt an ein sexuelles Wesen. Die Sexualität deines Kindes unterscheidet sich aber deutlich von deiner eigenen: Sie ist nicht zielgerichtet. Kinder suchen eher ganzheitlich nach schönen Gefühlen – mit allen Sinnen. Es ist völlig normal und gesund, dass sie ihre Körperöffnungen und Genitalien untersuchen und auch dafür „nutzen“, um sich wohlzufühlen.
Wenn dein Kind gar nicht erst der „Typ Missbrauchsopfer“ werden soll (dazu unten mehr), dann benötigt es Resilienz. Die entwickelt es maßgeblich durch ein gesundes Körperbewusstsein.
Wie kannst du deinem Kind zu einem positiven Körpergefühl verhelfen?
- Schenke deinem Kind (egal ob Junge oder Mädchen!) einen zärtlichen und liebevollen Körperkontakt, solange es diesen möchte.
- Erlaube deshalb deinem Kind, sich so zu berühren, wie es das selbst angenehm findet. Dadurch lernt es seinen Körper mit allen Sinnen intensiv kennen.
- Toleriere die Neugier und Wissbegierigkeit deines Kindes (z.B. beim gemeinsamen Toilettengang).
- Gib freundliche, entspannte Antworten und benenne Geschlechtsteile mit positiv besetzen, sachlichen Begriffen. (Optimal sind: Scheide, Klitoris, Penis, Hoden – aber wichtiger als der Begriff ist, dass deine innere Haltung gelassen ist und du dich damit wohlfühlst.)
- Sprich mit deinem Kind offen über seinen Körper und seine Sexualität – damit entwickelst du mit ihm eine ungezwungene Sprache, mit derer es etwaige Grenzübertritte klar einordnen und benennen könnte.
Mehr Anregungen dazu gibt es für Eltern in
- Carmen Kerger-Ladleif: Kinder beschützen!* (Umfassendes, sensibel geschriebenes Buch zu allen denkbaren Aspekten von kindlicher Sexualität und der Prävention und dem Umgang mit sexualisierter Gewalt. Unbedingt lesen. ♥)
und für Kinder (mit den Eltern zusammen) in:
- Robie H. Harris/ Michael Emberley: So was Tolles. Über Mädchen und Jungen, vom Kinderkriegen und vom Körper*
und mit Beginn der Pubertät empfehle ich für Eltern und Teenies gleichermaßen:
- Esther Schütz/ Theo Kimmich: Körper und Sexualität* – sehr feinfühlig geschrieben. ♥ Etwas preisintensiv, aber die Investition lohnt sich.
Bei all dem gilt:
Eltern, die ihr Kind in seiner sexuellen Entwicklung unterstützen, stärken gleichzeitig die innere Widerstandskraft ihres Kindes und dessen Fähigkeit, mit schwierigen Lebenssituationen umzugehen.
Kerger-Ladleif, S. 26.
Wie sieht’s dabei in dir aus?
Wenn dir das eher schwerfällt, dann trau dich gerne zurückzuschauen: In welcher Atmosphäre durfte sich deine eigene Sexualität entwickeln? Wurde es missbilligt, wenn du als Kind deinen Körper berührt hast oder nackt warst? Ist da vielleicht Scham? Wo kommt die her? Der Blick hierauf ist wichtig, um keine unterbewussten negativen Botschaften an dein Kind im Heute und Hier zu senden.
Das nur als Anregung. Zurück zu deinem Kind.
Was ist normal – und wo beginnen sexualisierte Gewalt und Missbrauch?
Sexueller Missbrauch ist, wenn Erwachsene oder ältere Kinder ihre sexuellen Bedürfnisse an, mit oder vor einem Kind befriedigen. Auch Frauen können Täterinnen sein: Hier reicht die Bandbreite von übertriebener Körperpflege bis hin zu schwerer Vergewaltigung.
Wo aber ist die Grenze zwischen zärtlicher Zuwendung und Missbrauch? Missbrauch beginnt da, wo TäterInnen eigene Bedürfnisse befriedigen.
Dabei ist wichtig:
Mädchen und Jungen spüren die Veränderung von Zärtlichkeiten zu Missbrauchshandlungen. Sie beschreiben, dass dann etwas komisch war. Dieses „Komische“ kann ein veränderter Blick, eine veränderte Atmung oder/ und eine veränderte Atmosphäre sein.
Kerger-Ladleif, S. 45.
Das heißt also: Missbrauch beginnt sehr viel früher, als du vielleicht bisher angenommen hast. Auch für Opfer sexualisierter Gewalt kann das Wissen entlastend sein: Nicht nur schwere Vergewaltigung ist Kindesmissbrauch. Auch z.B. Selbstbefriedigung in Anwesenheit eines Kindes ist traumatisch.
Wann und wie solltest du mit der Prävention beginnen?
Puuuuh – ich hasse „du sollst“, aber in diesem Artikel kann ich es leider nicht anders formulieren und will radikal Kante zeigen. Sieh’s mir bitte nach. Also hier ist, was du sollst:
1. Verantwortung übernehmen
Eltern tragen die Verantwortung für den Schutz ihrer Kinder vor sexueller Gewalt. Kein Kind kann sich alleine schützen.
Kerger-Ladleif, S. 72.
Und ein Kind ist niemals verantwortlich – auch nicht zu Teilen – wenn es Opfer von Missbrauch wird.
2. Vorbeugende Erziehung
Willst du dein Kind schützen, dann schmink dir das als „Projekt“ gleich mal ab – du erinnerst dich an meine Eingangssätze? Kurz mal Selbstverteidigung beibringen und mit einer langen Predigt belehren? Nope. Der Schutz vor Missbrauch ist eine Haltung. Sie beginnt mit der Geburt deines Kindes.
[Diese Haltung] ist darauf ausgerichtet, die Stärken von Jungen und Mädchen und ihre Unabhängigkeit zu fördern. Einer vorbeugenden Erziehung liegt ein Menschenbild zugrunde, das Kinder als autonome, aktive und schützenswerte Subjekte begreift.
Kerger-Ladleif, S. 72.
Nur ein gesundes Selbstwertgefühl und der Respekt vor sich selbst und anderen schützt Kinder vor Mobbing, Sucht und Gewalt.
Und das bekommen wir nicht durch Gehorsam, Belohnungen, Punkteheftchen, Gummibärchen, strenge Regeln und Erziehungstricks hin. Resilienz und Selbstwertgefühl entstehen durch beziehungsorientierte Familienstrukturen.
Was heißt das konkret?
- Vertrauensvolle Beziehung: Dein Kind muss auf die Beziehung zu dir vertrauen können – auf deine Sicherheit. Darauf, dass du ihm glaubst, dass es dir alles erzählen kann. Ohne Strafen oder Demütigungen zu befürchten. Es muss wissen, dass du seine körperlichen und emotionalen Grenzen respektierst und schützt.
- Selbstbewusstsein und Autonomie: Gehorsame Kinder trauen sich nicht, Erwachsenen gegenüber ihren Standpunkt klarzumachen – aber genau das sollten wir fördern! Selbstbestimmung und klare Grenzen gegenüber Autoritäten (Musiklehrer, Karatecoach, Kinderarzt, Nachbar etc.) ausdrücken, ist wichtig und gesund. (Ja, unter Beachtung des gegenseitigen Respektes, aber dennoch!) „Gehorsame“ und unterwürfige Kinder erleben potenziellen Tätern gegenüber Ohnmacht. TäterInnen spüren, welche Kinder „schwach“ und „gefügig“ sind.
- Nein sagen ist erlaubt: Ermutige dein Kind, seine Grenzen zu verteidigen und nein zu sagen. Akzeptiere und verteidige es, wenn es nicht die Hand schütteln, nicht rumalbern oder nicht schmusen will. Es muss wissen, dass auch bei nahestehenden Personen seine Grenzen respektiert werden. Wichtig ist das Nein bei ungewollten Berührungen und Situationen, in denen das Kind sich unwohl fühlt. Ein Nein ist auch wichtig, wenn ein komisches Gefühl, ein Unbehagen oder Angst entstanden sind. Kerger-Ladleif, S. 73. Jedes Kind hat ein Recht auf körperliche Selbstbestimmung: Niemals darf die Angst vor Liebesentzug entstehen und dazu führen, dass ein Kind Zärtlichkeiten annimmt, die es eigentlich nicht möchte. Bestärke dein Kind darin, seine Grenzen zu verteidigen. Lies dazu gerne den wichtigen Artikel Wie verteidige ich die Grenzen meines Kindes?
- Mein Körper ist schön: Ein Kind, dass seinen Körper liebt, begreift ihn auch als schützenswert. Und wie bringen wir ein Kind dazu, seinen Körper zu lieben? Am besten, indem wir es selbst vorleben. Am zweitbesten, indem wir ihm einen positiven Körperkontakt anbieten: Streicheln, Kuscheln, Herzen.
- Gefühle sind immer richtig: Ein Kind muss seinen Gefühlen vertrauen. Okay, das tut es zunächst von selbst. Aber das kann verloren gehen, wenn es ständig hört: „Ach, da ist doch nicht passiert!“, „Da kratzt nichts am Pullover. Stell dich nicht so an.“ oder „Das war doch gar nicht schlimm!“ – Lies dazu eine genaue Anleitung im Artikel: Umgang mit Gefühlen. Wenn du Gefühle deines Kindes kleinredest oder leugnest, haben es spätere Täter leichter, ihre Handlungen umzudeuten: „Das ist doch schön!“ Dein Kind muss wissen, dass es selbst der einzige Mensch ist, der weiß, ob sich etwas gut oder schlecht anfühlt. Niemand sonst.
- Geheimnisse und Petzen: Wenn du mit deinem Kind über Geheimnisse sprichst, kannst du ihm sagen, dass es gute und schlechte Geheimnisse gibt: Macht ein Geheimnis Kummer oder Angst? Fühlt sich schlecht oder bedrohlich an? Dann muss es mit einer vertrauten Person geteilt werden. Dann ist das kein Petzen, sondern Hilfe holen.
Sagen Kinder, deren Nein erlaubt ist, dann nicht auch Nein zum Aufräumen?
Zugegeben. Ein Kind, dass man zum Nein ermutigt, kann eine Herausforderung sein. Sieh das als Investition in die Zukunft und Sicherheit deines Kindes an. ♥
Hausaufgaben, Zähneputzen oder Aufräumen klappen in der Regel trotzdem, wenn ein Kind sicher ist, dass sein Nein nicht mit Liebesentzug bestraft wird.
Ich empfehle an der Stelle gerne die Bücher:
- Alfie Kohn: Liebe und Eigenständigkeit* und
- Jesper Juul: Nein aus Liebe*
- sowie für Kinder Edith Schreiber-Wicke: Der Neinrich*.
Im wunderbaren Buch Auch alte Wunden können heilen* schreibt Dami Charf zu diesem Thema:
Doch vergessen wir nicht: Das Nein zu den anderen ist das Ja zu sich selbst, Können Menschen keine Grenzen setzen und denken sie, sie müssten es allen recht machen, so werden sie sich verlieren und irgendwann (hoffentlich) aufwachen und sich selbst vermissen. „Nein“ ist eins der wichtigsten Worte für ein erfülltes Leben, und deshalb lohnt es sich, das Neinsagen zu üben.
Charf, S. 264.
Gilt übrigens nicht nur für dein Kind. Vielleicht kannst du es auch dir selbst hinter die Ohren schreiben? Oder an den Badezimmerspiegel.
Und da wir gerade bei Dami Charf sind: Bewegt dich die Frage – wurde ich als Kind missbraucht oder war da eigentlich nichts? Gibt es Berührungen und Zunahekommen, die dich beschäftigt oder belastet haben? Dann empfehle ich dir ihren ausführlichen Artikel: Der größte Verrat.*
Positiver Körperkontakt als Schutz
Zärtlichkeiten und Kuscheln sind ein wirksamer Schutz gegen Missbrauch. Aus zwei Gründen.
- TäterInnen nutzen ein unterkuscheltes Kind aus. Sie nutzen aus, dass dem Kind Zuneigung, Streicheln und Körperkontakt fehlen. Ein Kind, dass in emotionaler Hinsicht vernachlässigt ist, dessen innerer „Liebestank“ schlecht oder gar nicht gefüllt ist, geht anfänglichen Annäherungsversuchen von Gewalttätern viel eher auf den Leim.
- Kinder, die genau wissen, wie es sich anfühlt mit Papa oder Opa liebevoll zu kuscheln, fühlen sehr viel eher, wann ein Kontakt nicht mehr angemessen, sondern eben „komisch“, beängstigend, schlichtweg nicht gut und nicht gewollt ist. Ein herzliches, liebevolles Vorbild ist eine prima Schablone – was da nicht reinpasst, fällt sofort auf.
Alle Menschen brauchen Streicheleinheiten und Körperkontakt, um sich zu fühlen, um sich zu beruhigen und um sich wohlzufühlen in ihrer Haut. […] Menschen kommen als sinnliche Wesen auf die Welt, sie brauchen es, einen anderen Körper zu fühlen, gestreichelt und liebkost zu werden. Nur dadurch bekommen wir ein Gefühl dafür, wer wir sind.
Charf, S. 240.
Früh (oder eben sexuell) traumatisierte Menschen lehnen Kuscheln oft ab: Für sie sind Streicheleinheiten und Massagen unangenehm, eher invasiv. Sie versuchen später, selbst beim Sex das Streicheln zu vermeiden.
Ein positiver, nicht-sexueller Körperkontakt von Beginn an ist daher nicht nur präventiv gegen sexualisierte Gewalt, sondern auch grundsätzlich für das spätere Lebensglück von großer Bedeutung.
Also: Kuscheln wir mit unseren Kindern, solange und auf die Weise, wie sie es mögen. ♥
Okay. Nach den grundsätzlichen Präventivmaßnahmen – kommt hier nun die Gretchenfrage:
Wie sprechen wir konkret über die Gefahr?
Sprachlosigkeit und Tabuisierung sind lähmend für Erwachsene und Kinder. Schweigen schützt nur die Täter. Reden stärkt die Kinder.
Kerger-Ladleif, S. 80.
Sprechen wir mit unseren Kindern offen und konkret. So offen und konkret, wie es altersgerecht möglich ist.
Bestimmt hast du deinem Kind bereits erklärt, dass es keine persönlichen Details verraten soll. Wahrscheinlich hast du ihm auch eingehämmert, dass es keine Geschenke oder Süßigkeiten annehmen soll. Du hast ganz sicher verboten, dass es mit Fremden mitgeht. Aber ich sag dir eins: Das ist zu abstrakt.
Vielleicht bist du unsicher, weil du deinem Kind keine unnötige Angst einreden willst. Aber ein Verschleiern und Abstrahieren, ein Umschiffen und Verklären konkreter Beispiele kann eher dazu führen, dass dein Kind eine diffuse Angst vor fremden Menschen bekommt. Einerseits schmälert Angst das allgemeine Wohlbefinden deines Kindes. Und andererseits betrifft sexualisierte Gewalt nun mal nur zum Bruchteil „Fremde“. In den meisten Missbrauchsfällen sind die Täter (nahe) Bekannte oder Verwandte.
Am Anfang kann dir schon mal der Atem stocken, wenn du versuchst, konkret zu werden. Aber du wirst merken – sowohl für dein Kind, als auch für dich ist das der sinnvollere Weg.
Welche Worte? Hier ein Beispiel:
Weißt du, von außen kann man nie einschätzen, ob Menschen gut oder böse sind. Die meisten sind natürlich nett! Aber manche sehen nur nett aus. Sie nutzen dann aber das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen aus, um schlimme Dinge zu tun.
Kannst du dir vorstellen, wie sie das anstellen? Sie benutzen erst mal Tricks und sind total freundlich. Zum Beispiel unterhalten sie sich nett mit einem und fragen nach den Hobbys. Dann schenken sie vielleicht ein paar Schokoriegel und versprechen dir etwas Schönes. Ein Kätzchen vielleicht. Oder ein Computerspiel. Oder sie wollen dir etwas interessantes zeigen. Fotos oder Videos.
Aber dann wollen sie plötzlich auch etwas von dem Kind. Zum Beispiel selber Fotos oder Videos machen.
Und die Wahrheit ist, dass sie dich gar nicht wirklich mögen, sondern nur an sich selbst denken. Sie wollen einfach nur gute Gefühle, und die Gefühle der Kinder sind ihnen egal. Sie wollen vielleicht kuscheln und streicheln, obwohl du das überhaupt nicht magst und dich unwohl fühlst.
Sie tun dann vielleicht auch ganz eigenartige Dinge – zum Beispiel ihren Penis zeigen. Oder sie fassen ein Mädchen am Po, der Brust oder an der Scheide an. Einen Jungen am Po oder am Penis. Oder sie fassen sich selbst am Penis oder der Scheide an und schauen plötzlich ganz komisch oder atmen anders, stöhnen vielleicht. Oder sie wollen, dass man sich auszieht oder dass man ihren Penis oder ihre Scheide anschaut oder berührt.
Das ist sexueller Missbrauch. Und du musst wissen: All das, was ich gerade erzählt hab, dieser Missbrauch: Der ist verboten. Das darf kein Großer mit einem Kind machen. Niemals. Das darf auch kein größeres Kind und kein Jugendlicher mit dir machen.
Ich will gerne mit dir besprechen, wie du dich vor so etwas schützen kannst. Jetzt weißt du erst mal, dass es so etwas Böses gibt. Wenn du in eine Situation kommst, die dir Angst macht, in der du dich komisch fühlst und unsicher bist, dann lauf schnell weg, schrei laut und sprich mit mir oder jemandem Vertrauensvollen darüber. Egal, wer das war, der dir ein schlechtes Gefühl gemacht hat. Du kannst damit immer zu mir kommen. Du kannst auch andere Erwachsene um Hilfe bitten. Die Bäckersfrau, einen Spaziergänger oder eine Frau auf dem Spielplatz. Du kannst sagen: „Hilf mir bitte, mich verfolgen große Jungs und ich hab Angst!“ Lauf an Orte mit vielen Menschen, wenn du dich unsicher oder bedroht fühlst. Sprich jemanden an. Hilfeholen ist kein Petzen. Auch wenn es andere Kinder waren, die komische Dinge von dir verlangt haben.
Diese bösen Menschen, die nur nett tun, die sagen auch manchmal, das wär schon in Ordnung oder es ist jetzt euer Geheimnis. Aber sie lügen! Diese Leute behaupten das nur, damit sie damit immer weiter machen können. Aber niemand darf dich erpressen, niemand darf dich zwingen. Niemand darf dich gegen deinen Willen berühren.
Also erzähl mir bitte immer, wenn du traurig bist oder andere Sorgen und schlechte Geheimnisse hast. Wenn ich dir nicht richtig zuhöre, dann sag mir gleich, dass es ganz ganz wichtig ist und dass ich dir heute mein Versprechen gegeben hab. Okay?
Ich liebe dich und ich will, dass es dir immer gut geht, ja, mein Schatz?
Trauen wir uns, dem Grauen einen Namen zu geben. Wir müssen uns überwinden. Unseren Kindern zuliebe. ♥
Noch mehr Unterstützung dabei erhältst du hier:
- Faber, Adele und Mazlish, Elaine: So sag ich’s meinem Kind. Wie Kinder Regeln fürs Leben lernen*
- Mebes, Marion: Kein Küsschen auf Kommando. Kein Anfassen auf Kommando* (für Kinder)
- Porzelt, Susanne: Anna ist richtig wichtig! Ein Buch über sexuelle Gewalt in leichter Sprache* (für Jugendliche)
Zuletzt noch ein Blick aus gesellschaftlicher Perspektive
Traumaexperten, wie z.B. Prof. Franz Ruppert oder Prof. H.-J. Maaz etc., sind sich darin einig, dass nur derjenige andere sexuell traumatisiert, der selbst sexuell traumatisiert wurde. Wir haben hier also eine ganz hässliche (mögliche!) Kausalkette: Früheres Gewaltopfer A misshandelt jetziges Gewaltopfer B und dieses wird vielleicht in 20 Jahren künftiges Gewaltopfer C traumatisieren.
Wir leben in einer traumatisierten Gesellschaft.
- Mein Buchtipp dazu: Franz Ruppert: Wer bin Ich in einer traumatisierten Gesellschaft?*
Das heißt: Wir traumatisieren unsere Kinder durch mangelnde Empathie und falsche Intuition, weil wir selbst als Föten, Babys oder Kinder traumatisiert wurden – sei es mit Ignorieren, Beschämen oder Schreienlassen – oder durch körperliche Gewalt. (Hinweis: Emotionaler Missbrauch und andere seelische Gewalt hinterlassen im Gehirn messbar die gleichen Schäden wie körperliche. [Vgl. Hüther, Gerald.])
Unsere inneren Wunden versuchen wir mit allerlei alten Überlebensstrategien, unglücklichen Handlungsautomatismen und schädlichen Ersatzbefriedigungen zu heilen. Mit Shoppen, mit Reisen, mit dem Helfersyndrom, mit Instaherzchen, mit Schokoeis, mit Kraftsport, mit schnellen Autos, mit Perfektionismus etc.
Und hier kommt jetzt meine Meinung
(Wie ist deine dazu? Schreib sie mir sehr gerne in die Kommentare.)
Wenn die Gesellschaft nachhaltig etwas gegen (sexualisierte) Gewalt an Kindern erreichen will, dann müssen wir als erstes aufwachen und verstehen, dass unser gesamtes westliches Kultursystem krank ist: Das ganze Höher, Schneller, Weiter, Mehr zerstört nicht nur unsere Lebensgrundlage. Es fußt auf einem völlig von Trauma durchfressenen Boden – auf unser aller angeknacksten Seelen. Mehr dazu in: Hitler im Herzen – Erziehung und Trauma.
Hören wir endlich auf damit, unsere Kinder kaputtzuerziehen, krankzubilden und ins System reinzuquetschen.
Wenn wir heute ein Kind davor beschützen – auf welche Weise auch immer – traumatisiert zu werden, dann schützen wir damit möglicherweise auch dessen Kinder und Enkel.
Übrigens: Auch Mütter, die sexuell traumatisiert sind und dieses Trauma als Überlebensstrategie verdrängt haben, setzen über den Hebel der Reinszenierung manchmal ihre Kinder der gleichen Gefahr aus, und zwar vollkommen unbewusst. Der beste Schutz vor dieser Falle ist: Sein eigenes Trauma professionell aufzuarbeiten!
Also: Fangen wir bei uns an, den Kreislauf zu durchbrechen. Es ist unsere verdammte Pflicht.
Mögen deine Kinder glücklich und heil bleiben.
Deine Anne
PS: Hast du in Bezug auf dieses Thema große Ängste? Vielleicht ist die Selbstbegegnung nach IoPt etwas für dich. Melde dich gerne per Mail an: anne@weltfremd.net ♥
Literatur:
Charf, Dami: Auch alte Wunden können heilen*
Faber, Adele und Mazlish, Elaine: So sag ich’s meinem Kind. Wie Kinder Regeln fürs Leben lernen*
Ruppert, Franz: Liebe, Lust und Trauma: Auf dem Weg zur gesunden sexuellen Identität*
Identitätsorientierte Psychotraumatherapie, IoPT, Kinder schützen, Kindesmissbrauch, Missbrauch, Selbstbegegnung, sexualisierte Gewalt, Trauma
Nadja
Liebe Anne!
Danke für diesen großartigen, bewegenden Artikel! Ein so wichtiges Thema!!!
Das Buch „So was Tolles (…)“ von Harris und Emberley ist derzeit leider nicht zu bekommen. Hättest du eine Alternative Empfehlung?
Ganz liebe Grüße,
Nadja
Anne Albinus
Liebe Nadja,
danke für deinen Kommentar und den hilfreichen Hinweis. Ich werde mal recherchieren und testlesen und dann ggf. eine neue Empfehlung einbinden. Da muss ich erst in die Bibliothek. 🙂
Ganz liebe Grüße
Anne