Das Anteilemodell: Wie kann ich mir vorstellen, dass meine Persönlichkeit aus mehreren Anteilen besteht?
Wenn wir als eigentlich reife Erwachsene einer bestimmten Lebensherausforderung gegenüberstehen — das kann von einer wichtigen Entscheidung, übers Kinderkriegen bis hin zu einem Raubüberfall quasi alles mögliche bedeuten —, bemerken wir vielleicht zum ersten Mal, dass Stimmen in uns laut werden, die wir bis dato gar nicht kannten.
Vielleicht spüren wir Panik, wollen alles hinschmeißen, fühlen uns plötzlich wie fünf oder empfinden eine mörderische Wut, dass uns himmelangst und bange wird.
Das Anteilemodell visualisiert, warum es in uns Widersprüche gibt, zeigt, wie es sein kann, dass wir häufig zickig, kindisch oder unreif handeln und erklärt, wie wir in traumatischen Situationen unserer Vergangenheit einfach stecken bleiben.
Was ist ein Persönlichkeitsanteil?
Ein innerpsychischer Anteil ist nicht nur ein hippes oder spirituelles Bild. Neurobiologisch gesehen ist ein Anteil eine Art Netzwerk aus Nervenzellen. Er entsteht in der Regel, wenn wir wiederkehrende Erfahrungen machen. Darin gespeichert sind ganz bestimmte Erinnerungen, Empfindungen, Gefühle, Körperzustände, Bedürfnisse und eigene Wahrheiten. Da das Hirn plastisch ist, formt es sich anhand seiner Erfahrungen. Und eben da das Hirn plastisch ist, können z. B. eine gute Therapie, neue gesunde Beziehungserfahrungen oder regelmäßige wohltuende Handlungsmuster das Hirn und seine Struktur in jedem Alter auch zum Positiven verändern.
Jeder lebendige menschliche Organismus hat gesunde, reife Anteile, die kraftvoll, motiviert, ausgeglichen und unabhängig sind. Aber wir haben auch traumatisierte Anteile in uns, die abgespalten sind, weil sie z. B. „unerlaubte“ Gefühle oder unerträgliche Erinnerungen mit sich tragen. Und dann gibt’s noch Überlebensanteile, die clevere Strategien entwickelt haben, um uns im Gleichgewicht und stabil zu haben: Shoppingsucht, Migräne oder der Drang nach mehr und mehr Followern.
Wie agieren Anteile unterbewusst?
Sind unsere reifen, gesunden Anteile in der Überzahl, können wir ein gutes Leben führen.
Sind die Strategieanteile hingegen die meiste Zeit am Rotieren, weil sie die sehr zahlreichen Traumaanteile ausgleichen müssen, wird das Leben extrem belastend.
In unserem inneren System gibt es kleine, rebellische Kinder voller Hoppselust und Abenteuerfreude.
Es gibt kluge Erwachsene, die eine dissoziative Meditation dem Schnaps vorzuziehen gelernt haben.
Es gibt Strategien mit extremer Power, die ängstliche und einsame Babyanteile verteidigen.
Es gibt gruselige transgenerationale Traumata, die mit Krieg, Verbrechen oder Schuld beladen sind.
Es gibt Anteile, die wollen fliehen.
Welche, die wollen lachen.
Welche, die uns helfen.
Solche, die uns blockieren.
Ein sinnvolles System!
Aber all das in unserem Inneren ergibt für den Moment Sinn. Das eine Zahnrad greift in das andere:
- Solange die Wut auf die toxische Mutter nicht zugelassen werden kann, braucht es vielleicht den Narzissten als Freund, über dessen Tyrannei man sich stellvertretend beklagen kann.
- Eine harte, arrogante Schale beschützt vielleicht einen kleinen bedürftigen Anteil und bleibt solange nötig, bis wir selbst uns BEWUSST des Kleinen liebevoll annehmen können.
- Solange die Erinnerung über körperliche Gewalt abgespalten bleiben muss, sucht sich die zugehörige kleine Angst vorm Großvater eben ein Ventil aus Nackenschmerzen.
- Und solange der innere Ekel vor sich selbst nicht überwunden ist, spürt man oberflächlich eben eine Projektion von Ekel und rümpft die Nase angewidert vor rotznasigen Kleinkindern.
Hier die gute Nachricht:
Anteile in Not lassen sich abholen, versorgen, trösten, retten und befreien. Sie warten nur darauf gehört, gesehen, verstanden, geschützt und angenommen zu werden.
So können sie — mit reichlich Wohlwollen und Geduld — ebenfalls zu gesunden Persönlichkeitsanteilen reifen, uns unser Gesamtsystem bereichern.
Grundsätzlich, d.h. auch in schwierigen Situationen (!), liebevoll und nachsichtig aufs eigene System zu blicken mit der Überzeugung: da geben alle, was sie können und leisten, was gerade nötig ist, ist Selbstliebe in Reinform.
Ich wünsche dir, dass dir dieser Blick auf dich selbst gelingt. 💞
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