Deutschlands arme Kinder: Wie wirkt sich Kinderarmut auf die psychische Entwicklung aus?
Ich finde: Wenn in einem reichen Land wie Deutschland auch nur ein einziges Kind in Armut lebt, ist das ein Skandal. Denn Kinderarmut ist ein entscheidender Risikofaktor für Entwicklungstrauma. Oder anders gesagt: Armut geht nicht spurlos an der psychischen Entwicklung vorbei. Was ist aber die Realität? 10% der Kinder in Deutschland leben in relativer Armut. Das sind 1,5 Millionen Seelen.
Was heißt Armut in Deutschland?
Armut und Kinderarmut sind relativ. In Deutschland leiden arme Kinder in der Regel weder Hunger noch Durst, haben ein eigenes Bett und gehen zur Schule. Hier zeigt sich Armut in anderen Formen: als eingeschränkte materielle Grundversorgung, in verminderten Bildungschancen, schlechterer Gesundheit und geringerer sozialer Teilhabe. Diese Formen wirken sich negativ auf die Lebenschancen der Kinder aus – mit der Folge, dass die Gesellschaft mehr und mehr auseinander driftet.
Quelle: bpb.
Was bedeutet Armut psychisch für ein Kind?
In Dritte-Welt-Ländern leiden viele Kinder an Hunger, Durst und fehlender medizinischer Versorgung oder schuften als Kinderarbeiter. Sie erleben dadurch ständig Ohnmacht, Bedrohung und Angst um das eigene Leben und das der Familienmitglieder – diese Situation ist absolut traumatisch.
Warum? Weil Kindern die innerpsychischen Bewältigungsstrategien für den dauerhaften Stress fehlen. Was sie nicht verarbeiten können, wird von ihrer Psyche abgespalten. Die abgespaltenen Anteile bleiben im Unterbewusstsein und auf Körperebene stecken und verursachen später Traumafolgestörungen. [Vgl. Charf, Levine u.a.]
Aber bleiben wir in Deutschland: Wie wirkt es sich auf Kinder aus, die in relativer Armut leben? Auch bei ihnen bleiben zentrale kindliche Bedürfnisse zum Teil unerfüllt. Viele Studien (s.u.) belegen: Kinderarmut ist einer der Hochrisikofaktoren für psychische und physische Krankheiten im gesamten restlichen Leben.
(Definitionen, Studien, Tabellen und Zahlen zu Armut in Deutschland findest du unten in den Links.)
Ausgrenzung, Scham, fehlende Anerkennung und mehr
- Arme Kinder erfahren von Beginn an häufiger das Gefühl, ausgegrenzt zu sein, ähnlich wie bei Mobbing. Ihr natürliches Bedürfnis von Zugehörigkeit und Gemeinschaft wird dadurch nicht oder ungenügend erfüllt. Die armen Kinder suchten weniger häufig den Kontakt zu anderen Kindern in der KiTa, nahmen weniger aktiv am Gruppengeschehen teil und äußerten seltener ihre Wünsche. Zugleich war eine beginnende Ausgrenzung zu beobachten: So wurden arme Kinder häufiger als nicht-arme Kinder von den anderen Kindern in der KiTa gemieden. Gerda Holz, Quelle: bpb.
- Kinder vergleichen sich mit anderen Kindern: Von früh erfahren sie dadurch ein Gefühl von Minderwertigkeit. Arme Kinder bewerten häufig ihre subjektiven Lebenschancen schlechter: „Aus mir wird sowieso nichts werden!“
- Häufig ist das Familienklima durch die Geldsorgen belastet und die Familienmitglieder streiten öfter. Wenn emotionale Kraft und Nerven der Eltern für behutsame Kommunikation fehlen, geben Kinder sich in vielen Fällen selbst die Schuld dafür. (Das ist so ähnlich wie bei Scheidung oder psychischen Problemen der Eltern.)
- Kinder kämpfen oft auch mit Schuldgefühlen, weil sie sich als Last empfinden, z.B. wenn Papa das mühsam Ersparte für teure Wintersachen ausgeben muss. („Wenn ich nicht wäre, hätten Mama und Papa mehr Geld und weniger Sorgen.“)
- Im Alltag erfahren arme Kinder seltener das Gefühl von Anerkennung, Respektabilität und Würde. Damit verknüpft sind häufig belastende und dauerhafte Gefühle von Scham, zum Beispiel vor Mitschülern wegen zerschlissener Schuhe oder einer nicht besonders schönen Wohnung. Arme Kinder können z.B. seltener andere Kinder mit nach Hause bringen und seltener ihren Geburtstag feiern. Sie haben weniger Gelegenheiten, über Vereinsaktivitäten soziale Kontakte zu schließen und zu pflegen. Gerda Holz, Quelle: bpb.
- Kinder aus armen Verhältnissen haben sehr viel weniger Möglichkeiten, sich Wohlbefinden zu verschaffen, z.B. durch Freizeitangebote. Sie befriedigen i.d.R. ihre Bedürfnisse nach Unterhaltung, sozialem Zusammenkommen, sinnvollen Freizeitangeboten, Bildung oder Musikunterricht wenig bis gar nicht. Je früher, je schutzloser und je länger Kinder einer Armutssituation ausgesetzt sind, desto rasanter fährt der Fahrstuhl nach unten und umso geringer wird die Möglichkeit, individuell die eigentlichen Potenziale herauszubilden und Zukunftschancen zu bewahren. Gerda Holz, Quelle: bpb.
Geldsorgen und emotionaler Ballast
Die Bedürfnisse nach Bildung, Austausch, emotionaler Stabilität und Würde stehen bei Kindern in Armut häufig hintenan. Innerpsychisch bedeuten diese Belastungen dauerhaften Stress, der die gesunde psychosoziale Entwicklung beeinträchtigt. Und der Trend ist alarmierend: Die Armutszahlen steigen, und der Wohlstandsunterschied zwischen den Familien wächst ebenfalls: Die berühmte Schere zwischen arm und reich, you know.
Kurz gesagt:
Armut ist ein Risikofaktor für das Entwicklungstrauma
Was ein Entwicklungstrauma ist, kannst du in diesem Artikel nachlesen.
Die psychischen Folgen von Kinderarmut können also die gleichen sein wie bei einem Entwicklungstrauma durch Vernachlässigung oder Gewalt, nämlich z.B. ein höheres Risiko für:
- Gewichtsprobleme
- höhere Infektanfälligkeit
- frühen Alkohol- und Drogenkonsum bis hin zu Sucht
- bedenklichen Medienkonsum/ Spielesucht
- etc.
Exkurs: Wer ist am schlimmsten dran?
- Kinder: Die Jüngsten leiden häufiger Armut in Deutschland als Erwachsene.
- Migranten: Kinder aus Ausländerfamilien trifft es doppelt so häufig.
- Mädchen: Arme Mädchen haben noch seltener ein eigenes Zimmer, Fahrrad oder gutes Essen als arme Jungen. Patriarchalische Strukturen wirken von Geburt an und das auch innerfamiliär. Deshalb auch besonders:
- Kinder mit alleinerziehenden Müttern: Arbeitstätige, alleinerziehende Mütter sind emotional, organisatorisch und finanziell am meisten belastet. Zugespitzt könnte man formulieren: Aus dem Leeren lässt sich nichts schöpfen.
Elitäre und Ausgegrenzte
Olaf Groh-Samberg und Prof. Matthias Grundmann belegen auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung (s.u.) eindeutig, dass an der deutschen Kinderarmut jahrelange Versäumnisse der Politik Schuld sind. Es gibt tolle Präventionskonzepte. Seit Jahren sind Ursachen und mögliche Gegenmaßnahmen bekannt. Das heißt im Klartext: An mindestens einem der Risiken für Entwicklungstraumata ist politisches Versagen Schuld.
Sobald allerdings in der politischen Öffentlichkeit soziale Probleme mit Kindern und Jugendlichen auftauchen (Gewalt, Bildungsprobleme, Chancenungleichheit), nutzt man gerne eine hinterhältige Rhetorikkeule: Man schiebt überforderten Eltern und laschen Lehrern die Schuld in die Schuhe. Man ruft nach: Strengerer Erziehung! Mehr Leistungsanforderungen!
Moment mal … Strenge und Erziehungsgewalt für mehr Chancengleichheit?
Soll ich über diese perverse Hypothese lachen oder weinen?
Soziale Probleme durch Ungleichheit sind nicht die Privatschuld der Einzelnen, sondern erwiesenermaßen ein strukturelles Problem.
Erst von Teilhabegerechtigkeit schwafeln, aber nebenher Leistungen kürzen und Eltern beschuldigen, sie machten alles falsch?
Nur mal als Beispiel: Wenn eine Frau direkt nach dem Studium Mutter wird, erhält sie ungefähr 300 Euro Elterngeld. Boahr, mega! Nicht. Und das ist erst der Anfang. Dann kommen noch Genderpaygap … na gut, ich erspare euch das Lied.
Schauen wir lieber in eine andere Richtung und fragen nach unseren Möglichkeiten.
Was können wir gegen Kinderarmut tun?
Für Betroffene:
- Spenden und Verschenken: Bevor alte Klamotten und Spielzeuge in der Abstellkammer vergammeln, ruf die örtliche Tafel an – einige organisieren Weihnachtsfeiern für benachteiligte Kinder und freuen sich über gespendete Geschenke. Auch Sozialkaufhäuser nehmen unkompliziert Kleidung, Möbel, Spielzeuge an. (Letztere sind übrigens wirklich sozial gegenüber vielen Kleidercontainerdiensten, die in Dritteweltländern für wirtschaftliche Nachteile sorgen.)
- Kennst du Betroffene? Biete ihnen doch emotionale oder organisatorische Hilfe an. Einer alleinerziehenden Mama hilft manchmal schon ein gemeinsamer Spielnachmittag, um den Kopf freizupusten, oder ein bisschen Haushaltshilfe, damit mehr Kuschelzeit mit den Kindern bleibt.
- Ehrenamtliches Engagement: Schon mal darüber nachgedacht, dich ehrenamtlich zu engagieren? Caritas, Tafel, Kindernothilfe? Anrufen und nachfragen.
- Geldspenden: z.B. beim Deutschen Kinderhilfswerk.
Als Betroffene selbst:
Beziehung statt Erziehung wählen. Wenn wir Kinder wie Menschen behandeln und das soziale Wohl an erste Stelle setzen, schenken wir ihnen eine dicke Portion Resilienz. Armut ist nur ein Risikofaktor. Sie MUSS NICHT zu Entwicklungstraumata führen. Für Kinder ist ein gesundes Klima in der Familie entscheidend.
Faire Konflikte. Liebevolles Begleiten von Gefühlen. Offenes Gespräch über die Probleme der Familie, über Neid, Ausgrenzung, etc.
Damit helfen wir Kindern, ihre Erlebnisse, Gefühle und Probleme zu verarbeiten.
Neben dem Faktor „Armut“ wirkt der Faktor „Familiensituation“ verschärfend oder abmildernd. Kinder in diesem Alter nehmen Armut in ihrer Familie zwar noch nicht direkt wahr, deren Wirkung schlägt sich aber indirekt über das Bewältigungsverhalten der Eltern nieder. […] Ein möglichst konfliktfreies Familienklima, ein kindzentrierter Alltag und viele gemeinsame Aktivitäten von Eltern und Kindern sind […] entscheidende Schutzfaktoren.
Gerda Holz, Quelle: bpb.
Wenn du betroffen bist – hier gibt’s eine Liste mit hilfreichen Links: kinderinfo.de
Zivilgesellschaftlich gesehen:
Das Thema braucht mehr ÖFFENTLICHKEIT! Zum Wohle der Kinder und damit auch indirekt unserer gesellschaftlichen Zukunft, müssen wir lauter anprangern, Politikern Nachrichten schreiben, Leserbriefe verfassen, demonstrieren, Petitionen erstellen – jeder, was er eben leisten kann. ♥
Politisch gesehen:
Wie wäre es damit, die (gefühlt hundertfach) vorhandenen, klugen Armutspräventionskonzepte einfach mal UMZUSETZEN? Wie wäre es außerdem mit so Dingen wie: Bedingungslose Kindergrundsicherung? Arbeitsmarkt für Eltern umgestalten? Das muss die Politik nur WOLLEN. ARME KINDER HABEN KEINE LOBBY. Die allgemeine Öffentlichkeit, also WIR, müssen ihre Lobby werden.
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Alles Liebe
Anne
Quellen:
Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung vom 04.12.2020
- https://www.bpb.de/apuz/29668/kinderarmut
- https://www.bpb.de/apuz/29673/soziale-ungleichheit-im-kindes-und-jugendalter?p=all
- https://www.bpb.de/apuz/29671/lebenslagen-und-chancen-von-kindern-in-deutschland?p=all
- Bundesgesundheitsblatt 2016, Nr. 59: Gesundheitliche Langzeitfolgen psychosozialer Belastungen in der Kindheit