Erleben unsere Kinder Gewalt in Kitas? Erfahrungsberichte, Ursachenforschung und offene Fragen
Wie sieht der Alltag in einer deutschen Kindertagesstätte aus? Pauschal sicher nicht zu beantworten. Es gibt viele Kinder, die von hochwertiger Fremdbetreuung sehr profitieren, viele großartige, warmherzige Fachkräfte und tolle Konzepte.
Doch ist dieses Ideal auch die Realität für alle Einrichtungen, Fachkräfte und Kinder? Diesen Bericht erarbeite ich mit klopfendem Herzen, obwohl er reale Erfahrungen widerspiegelt. Warum? Über dem Thema Gewalt in Kitas liegt ein großes gesellschaftliches Tabu. Und viele Menschen werden im Diskurs an unterschiedlichen Stellen getriggert – sachlicher Austausch wird dadurch schwer. Doch führen müssen wir ihn trotzdem dringend!
Erleben Kinder Gewalt im Kindergarten?
Heikle Frage. Fühl dich herzlich eingeladen, deine persönliche Erfahrung, deine Sicht SACHLICH und wertschätzend in den Kommentaren zu ergänzen. Uns sollte es bei all dem nicht darum gehen, uns GEGEN bestimmte Eltern oder Fachkräfte zu positionieren, sondern FÜR Familien und Kinder und deren Rechte einzustehen.
Für eine gewaltfreie Kindheit. Für stabile und glückliche Familien. ♥
In diesem Beitrag habe ich zusammengestellt:
- den Versuch einer Erklärung, warum Gewalt in Kitas gesellschaftlich stark tabuisiert wird,
- Erfahrungen aus der Beratungspraxis zu biografischen Hintergründen und Triggern,
- den bewegenden und ungekürzten Bericht einer Erzieherin, die Missstände und Gewalt in Kitas anprangert,
- die messerscharfe Sachanalyse einer Sozialamtsfachangestellten, die regelmäßig in Kitas hospitiert,
- den Versuch, Ursachen im System darzustellen
- und viele offene Fragen.
WICHTIG
Wenn du diesen Beitrag liest, während du den Verdacht auf SEXUALISIERTE Gewalt durch ältere Kinder oder Erwachsene im Kindergarten (oder auch in anderen Kontexten) hast, dann empfehle ich, hier erstmal nicht weiterzulesen, sondern zuerst auf die Seite www.hilfe-portal-missbrauch.de zu gehen. Dort erhältst du per Chat, Telefon oder Textbeitrag schnelle, fachkundige Hilfe.
Also dann, let’s go.
Tabuthema: Warum meiden wir den Diskurs?
Hier eine wahrscheinlich unvollständige Sammlung von Gründen, warum Gewalt in Kitas gesellschaftlich tabuisiert ist:
Bagatellisieren von Gewalt
Gerade psychische Gewalt (Druck, Zwang) wird NACH WIE VOR reihenweise bagatellisiert, unter den Teppich gekehrt, nicht ernstgenommen und ignoriert. Die Haltung „hat uns auch nicht geschadet“ bzw. „ist doch normal“ herrschen in weiten Teilen der Gesellschaft noch vor. Warum? Ganz einfach als eigene Überlebensstrategie.
Das fehlende Verständnis von Bindung und Trauma in den ersten Lebensjahren ist nicht nur in der weiten Bevölkerung, im Justizbereich, im Bildungsbereich, unter Medizinern etc. ein Problem, sondern auch manche (oder sogar viele?) pädagogische Fachkräfte mit langjähriger Erfahrung haben nie eine aktuelle Weiterbildung o.Ä. im Bereich Bindungstheorie oder Frühes Trauma erhalten: Dass strenge Durchsetzung blinden Gehorsams psychische Folgen hat und emotionale Gewalt die gesunde psychosoziale Entwicklung der Kleinsten unmöglich macht, wer hat das schon verinnerlicht?
Allzu oft kommen noch immer Sprüche wie: „Die ersten drei Jahre vergessen sie doch eh!“, „Ein Klaps schadet nicht!“, „Ich musste ihn hart anpacken, sonst hätte er nicht gehört!“ oder „Ein bisschen zwingen müssen wir sie schon, sonst essen sie gar kein Gemüse.“
Wenn wir uns als Gesellschaft nicht einig darüber sind, wo Gewalt am Kind überhaupt anfängt, ist ein Diskurs über Gewalt im Kitaalltag schwierig.
Vorwurf: Das verunsichert junge Eltern!
Nicht alle Eltern haben die Möglichkeit, ihre Kinder so zu betreuen oder betreuen zu lassen, wie sie sich das wünschen: Finanzieller Druck, besondere familiäre Herausforderungen, bestimmter Wohnort, ein begrenztes Kita-Angebot, begrenzte Ressourcen (Kraft, Zeit, psychische Stabilität…) etc. können Eltern und Kinder in die Lage bringen, eine Betreuungsart oder -einrichtung zu wählen, die sie vielleicht selbst nicht gut finden. Kommt dann Kritik am Betreuungssystem oder einzelnen Einrichtungen und Konzepten, lautet oft der Vorwurf: Warum äußerst du so etwas? Du machst den Eltern nur unnötig Angst!
Eltern, die zu Ängsten/ Schuld- und Schamgefühlen neigen, können mit solchen Informationen tatsächlich verunsichert werden. Ob das jetzt aber ein Argument dagegen ist, Gewalt an Kindern öffentlich zu diskutieren und sich dagegen zu engagieren? Ich glaube nicht.
(Ähnliche Vorwürfe erhalten übrigens oft Bloggerinnen und Aktivistinnen, die sich gegen Gewalt in der Geburtshilfe engagieren.)
Für mich sind GERADE diese Ängste ein Argument zu sagen: Wir müssen etwas ändern, wir brauchen qualitativ GUTE Fremdbetreuung und Strukturen, die Betreuungspersonen UND Kindern guttun. Einfach wegschauen und das Beste hoffen, ist in meinen Augen nicht besonders konstruktiv.
Vorwurf Antifeminismus: „Soll die Frau zurück an den Herd?“
Immer – wirklich IMMER – sobald jemand sich auch nur subjektiv kritisch gegen irgendeinen Aspekt in der Fremdbetreuung von Kindern äußert, kommt in den Kommentarspalten aus einigen Ecken die Kritik, das sei antifeministisch und man wolle wohl alle Frauen zurück an den Herd zwingen wie die Nazis?
Puh. Ich hab dazu Fragen: Was hat das eine überhaupt mit dem anderen zu tun? Warum sollte Kindergartenfrei (worum es ja in der Diskussion um Verbesserung der Betreuungsqualität nicht mal geht!) automatisch heißen, die FRAU müsse zu Hause bleiben? Gibt’s da nicht meist auch noch einen zweiten Elternteil, diesen… na, wie hieß der noch, ach ja! Den Vater? (Jaaa, ich weiß, es gibt auch tolle gleichgeschlechtliche Elternpaare und Alleinerziehende.)
Und zweitens: Ich bin überzeugt, wenn flächendeckend für hochwertige, beziehungs- und bedürfnisorientierte Fremdbetreuung gesorgt wäre, würden MEHR Familien das Angebot (überhaupt oder zumindest endlich mit einem guten Gefühl) annehmen.
Also Feminismus, politische Korrektheit und wertschätzende Kommunikation in allen Ehren – aber Gewalt MUSS klar benannt und scharf kritisiert werden dürfen, wenn wir sie abschaffen wollen.
Die Helikopter-Keule
Eine entscheidende Hemmschwelle ist offenbar auch, dass engagierte Eltern ganz schnell die Helikopter-Eltern-Keule übergebraten kriegen. (Übrigens auch eine Form von Gewalt!) Bekannte und Klientinnen berichten, ihnen werde teilweise selbst bei durchweg unkritischen Nachfragen von Kitamitarbeitenden vorgeworfen, sie verhätschelten ihre Kinder oder wären „eine richtige Übermutter“.
Dass Eltern in Kindergartengarderoben zwischen Tür und Angel solche Herabwürdigungen und fragwürdigen Erziehungstipps („Sie müssen VIEL strenger mit ihm sein!“ oder „Lassen Sie sie diesen Machtkampf auf keinen Fall gewinnen!“) erhalten, ist HOFFENTLICH nicht der Standard. Aber ich bekomme es regelmäßig zugetragen – insbesondere als Grund dafür, dass Eltern sich scheuen, Kritik an gewaltvollen Erziehungsmaßnahmen zu äußern.
All das (und sicher viele weitere) können Gründe dafür sein, Missstände nicht zu äußern oder das Gespräch zu vermeiden. Wenn doch ein Austausch stattfindet, ist er oft von einer oder beiden Seiten aus unsachlich. Warum?
Große Gefühle und alte Verletzungen: Psychologischer Hintergrund von unsachlichem Austausch
Wenn es um Kinder und Kindheit, Elternschaft und Erziehung geht, rutschen viele raus aus erwachsenen, reifen Anteilen und stattdessen rein in ganz alte Themen – in kindliche Gefühle, in frühe unerfüllte Bedürfnisse, in eigene psychische Untiefen. All das hat dann mit dem Gegenüber und der Sachdiskussion manchmal gar nichts mehr zu tun. Bildlich gesprochen: Aus den Körpern zweier kluger Erwachsener brüllen sich zwei verletzte kleine Kinder an.
Das kann letztlich so aussehen: Berechtigte Kritik wird von den Eltern nicht mehr wertschätzend vorgetragen, weil eigene Kitatraumatisierungen (Zwang zum Essen, strenges Töpfchentraining, Demütigungen, Ignoriert werden) getriggert werden. Und die Fachperson, die sich plötzlich nicht gesehen, missverstanden und angegriffen fühlt, kontert vielleicht herablassend oder zielt zum Gegenangriff.
Mehr zum Thema Trigger und alte Wunden gibt es in Psychologisches Basiswissen für Eltern oder im Artikel über das Anteilemodell.
Was können Fachkräfte und Eltern tun?
Der Austausch über die Qualität von Kinderbetreuung ist also ein emotional hoch aufgeladenes Thema – Selbstwert, eigene Erfahrungen, Angriff, Sachebene, Gefühl, Verstand, Fragen und Antworten, Wünsche und Bedürfnisse, Anforderungen und Realität werden wild vermischt. Das Bewusstsein verliert schnell den Überblick.
Wenn wir uns diese Tatsache bewusstmachen und als erstes ruhig in uns hineinspüren, ist das ein wichtiger Schritt hinein in reife Anteile und hin zu sachlichem, wertschätzendem Austausch. Und genau dieser ist vielerorts dringend nötig, wie folgender Bericht zeigt:
Erschreckende Erfahrungen einer pädagogischen Fachkraft
Eine Erzieherin, 33 Jahre alt und Mutter zweier Kinder, schickte mir diesen bewegenden Aufsatz:
Ideal und Realität
„Die Dimensionen pädagogischen Handelns (Akzeptanz/Wertschätzung, Empathie, Kongruenz/ Echtheit, Transparenz, Nähe und Distanz) wurden mir in meiner Ausbildung als Leitfaden für die Arbeit als pädagogische Fachkraft vermittelt. Dazu noch viele andere wertvolle, wertschätzende Inhalte wie z.B. das neue Bild vom Kind, welches das Kind als Akteur seiner Selbst begreift. Dem Kind auf Augenhöhe begegnen und es nach bestem Wissen in seiner Entwicklung als Begleiterin zu unterstützen. Das war meine Vorstellung von diesem Beruf. Schon während meiner ersten Praktika merkte ich jedoch, dass Theorie und Praxis nicht zusammenspielen. Es gibt eine graue Zone, in der sehr viel Handlungsspielraum ist und Misshandlungen von pädagogischem Personal vollzogen und tabuisiert werden.“
Gewalt und das veraltete Bild vom „absichtlich bösen Kind“
„Erniedrigung, übergriffiges Verhalten, seelische und körperliche Gewalt. Die Liste scheint lang und leider sind es keine bösen Märchen, sondern Realität in einer Kindertageseinrichtung. Es herrscht die Haltung vor, dass Kinder die Erwachsenen mit ihrem Verhalten manipulieren wollen. So als wären sie kleine Biester, die uns auf der Nase herumtanzen wollen und uns absichtlich provozieren. Das Bedürfnis nach Autonomie wird Kindern zum Verhängnis und wird als Provokation und Böswilligkeit interpretiert.“
Beispiele:
Strafe und Demütigung
„Ich war schockiert, als meine damalige Mentorin (ca. 55 Jahre alt) ein 4-jähriges Kind auf ein Regal hob, weil es ihre Anweisung nicht ausgeführt hatte. Das Kind weinte bitterlich und hatte sichtlich Angst vor ihrer aggressiven Art. Es musste einige Minuten verharren, den Blicken der Anderen ausgesetzt, bevor es von ihr erlöst wurde. Die Demütigung im Gepäck.“
Isolation im Nebenraum
„Ein Kleinkind, 1,8 Jahre wurde als es einer Aufforderung nicht nachging und weinte aus dem Bad in den Nebenraum getragen und da allein zurück gelassen mit der Aussage: “Wir müssen die jetzt mal lassen. Sonst denkt sie, dass sie immer gewinnen kann.”
Körperliche Übergriffigkeit
„Ein anderes Kleinkind weint als es in den Schlafraum gehen soll. Es wird zum Einschlafen festgehalten. Als es nach einer Stunde weinerlich aufwacht, rennt die Erzieherin schnell hin und setzt sich neben die Matte und legt ihr Bein über das Kind, um es auf der Matte zu fixieren.“
Zwang durch Erniedrigung und körperliche Gewalt
„Ein Mädchen, 2 Jahre möchte nicht auf ihrer Matte liegen beim Schlafen und setzt sich daneben. Die Erzieherin legt sich auf die Matte des Kindes und fragt hämisch, ob das nun ihre Matte sei. Das Mädchen verneint und daraufhin packt es die Erzieherin und hebt es auf sich drauf. Das Kind liegt Bauch an Bauch auf der Erzieherin, schreit und versucht sich aus dieser Lage zu befreien. Sie nimmt das Kind samt Matte aus dem Schlafraum und geht in den Gruppenraum. Nach einigen Sekunden höre ich einen dumpfen Aufprall (Kopf des Kindes auf dem Boden aufgeprallt nehme ich an). Aussage der Erzieherin: “Das warst du jetzt aber selbst.” Das Mädchen schläft irgendwann vor Erschöpfung ein. Als sie wieder aufwacht ist die Erzieherin sehr freundlich zu ihr, fragt sie, ob sie gut geschlafen hat und sagt ihr, dass sie ein braves Mädchen ist. Zuckerbrot und Peitsche!“
Umgang mit Emotionen und altersgemäßer Entwicklung
Die Erzieherin schreibt: „Mit Emotionen wie Wut oder Trauer können viele pädagogische Fachkräfte nur schwer umgehen. Die Kinder werden in andere Zimmer oder die Garderobe geschickt oder abgestellt und dürfen wiederkommen, wenn sie sich selbst beruhigt haben. Wenn ein Kind einem anderen Kind ein Spielzeug wegnimmt oder es haut, wird es als böse bezeichnet und für das unangebrachte Verhalten bestraft. Danach erfolgt in der Regel eine erzwungene Entschuldigung.
Ein Kind wird während der Schlafenszeit nach 1 h wach und wimmert. Erzieherin geht hin, reißt den Schnuller aus dem Mund und sagt: „Hör auf zu weinen, dann bekommst du den Schnuller wieder.” (Kind zeigt Emotion und wird mit Schnullerentzug bestraft und erpresst und zur Unterdrückung des Gefühls gezwungen.)
Kein Benennen von Gefühlen, Erlernen von alternativen Konfliktlösungsstrategien, kein Aufzeigen eines Perspektivwechsels. Das Bewusstsein, dass dieses Verhalten in der kindlichen Entwicklung normal ist und Kinder auf die Erwachsenen angewiesen sind in Bezug auf Co-Regulation und aus einer Not heraus agieren, ist teilweise nicht vorhanden bzw. wollen sich einige auf diesen Prozess der Weiterentwicklung nicht einlassen.“
Fragwürdige Erziehungstipps für die Eltern
Die 33-jährige schreibt weiter: „Sätze, die ich von Kolleginnen bereits mehrfach gehört habe: “Kinder sind faul. Sie sind Schauspieler. Sie sind der Chef zu Hause und die Eltern lassen sich alles sagen.”
Kinder brauchen eine straffe Führung, wurde mir mal von einer Kollegin gesagt, und sie erzählte mir von einem Vater, der sehr mitfühlend war, als sein Kind gestürzt ist. Sie betitelte ihn als Weichei. Eltern werden als inkompetent und inkonsequent hingestellt, wenn sich nicht autoritär sind. Man müsse die Kinder für das Leben abhärten.“
Wo bleibt die Gleichwürdigkeit des Kindes?
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. So steht es in unserem Grundgesetz. Warum zählt das offenbar nicht für Kinder? Warum wird deren Würde so oft mit Füßen getreten?
Kleinkindern wird das Essen verweigert, wenn sie z.B. nicht am Tisch sitzen bleiben. Sie werden mit kalten Waschlappen gewaschen. Wer möchte einen kalten Waschlappen aus dem Nichts im Gesicht haben? Kleinkinder werden am Arm gezerrt, wenn sie nicht schnell genug sind oder woanders hinlaufen. Sie werden auf den Topf gesetzt auch wenn sie es nicht möchten und weinen. Kinder sollen so schnell wie möglich selbständiger werden. Windelfrei, Schnullerfrei, sich allein umziehen können und am besten immer brav und gehorsam tun, was ihnen gesagt wird?“
Harte Eingewöhnungen
Die junge Erzieherin berichtet weiter: „Schlimm ist oft schon die Eingewöhnung. Achtzehn (!) Kleinkinder in einer Krippe mit drei Erzieherinnen. Drei Kinder werden parallel eingewöhnt. Irgendein Kind weint immer bitterlich. Einige können noch nicht laufen, einige essen oder trinken noch nicht selbstständig. Einige brauchen noch ein Vormittagsschläfchen, weil sie völlig übermüdet sind. Die Übergänge fallen verständlicherweise schwer und am liebsten würde man jedes Kind auf den Schoß nehmen und trösten, aber es geht nicht.
Ich habe einige Eingewöhnungen erlebt und begleitet und einige davon waren herzzerreißend. Am liebsten hätte ich dem Elternteil gesagt, dass es sein Kind mitnehmen soll und in ein bis zwei Jahren wiederkommen. Und ja, ich weiß, dass das nicht immer möglich ist. Leider!
Einige Kinder weinen oder schreien wochenlang bis sie aufgeben und verstehen, dass es keine andere Option gibt.“
Kita muss gewaltfrei sein
Die 33-Jährige findet: „Es muss aufhören! Gewalt an Kindern muss aufhören, damit gesunde Erwachsene heranwachsen können, für die es normal ist, gewaltfrei zu handeln! Und damit meine ich nicht, dass es keine Regeln und Grenzen gibt, weil das immer wieder als Argument kommt: Kinder dürften sich heutzutage angeblich alles erlauben. Nein, Regeln und Grenzen sind absolut notwendig für ein harmonisches Zusammenleben und vermitteln Kindern Sicherheit und Orientierung. Gewalt nicht! Gewalt zerstört!“
Woher kommen die Probleme? Was muss sich ändern?
„Hoffnung auf Verbesserung“, so schreibt sie in ihrem Bericht: „setzt man in das jüngere Fachpersonal. Doch dieses kämpft beim Streben nach Veränderung gegen Windmühlen, ist verunsichert und handelt letztendlich früher oder später ähnlich wie das berufserfahrene Personal. Erzieherinnen im Alter von 30-35 Jahren, darunter zwei langjährige Freundinnen, berichten mir, dass sie sich nicht vorstellen können, diesen Beruf bis zur Rente ausüben zu können. Sie fühlen sich, als würden sie nur funktionieren und den Tag „abarbeiten” und dass eine bedürfnisorientierte Arbeit gar nicht möglich wäre. Woran liegt es?
- Katastrophaler Personalschlüssel: Die Gruppen sind VIEL zu groß. Zu viele unerfüllte Bedürfnisse in einem Raum. Zu wenig Personal, um den Bedürfnissen gerecht zu werden. Frustrationen und Überforderung sind die Folge.
- Engagierte Fachpersonen kündigen, weil sie die dauerhafte Überlastung und innere Zerrissenheit nicht aushalten.
- Zu wenig Supervisionen und Möglichkeiten zu reflektieren und belastende Erlebnisse anzusprechen.
- Mangelnde Kenntnisse über die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung eines Kindes.
- Kaum Möglichkeiten, individuell auf die Persönlichkeiten der Kinder einzugehen.“
Ist dieser Bericht nur ein schockierender Einzelfall?
Eine Mitarbeiterin der Eingliederungshilfe eines sächsischen Sozialamtes hospitiert regelmäßig in verschiedensten Kindergärten im gesamten Landkreis (Hospitationen von Kindern mit Integrationsbedarf laut Sächsischer Integrationsverordnung). Sie ist 31 Jahre alt und selbst Mutter einer Tochter.
Auch sie hat mir einen ausführlichen schriftlichen Erfahrungsbericht zukommen lassen, der vieles von oben bestätigt. Ich habe ihn deshalb stark gekürzt und zusammengefasst.
Kaum Möglichkeiten für Bedürfnisorientierung in Krippen
Aus ihrem Bericht geht hervor, dass die kindlichen Bedürfnisse nach Co-Regulation, Körperkontakt, individuellem Schlafbedarf und Aufmerksamkeit in den besuchten Krippen häufig kaum oder nur sehr unzureichend erfüllt werden könnten, da die Versorgung aller Kinder in der großen Gruppe für viel zu wenige Fachkräfte zeitlich, räumlich und emotional nicht zu bewältigen sei. Sowohl bei der Verabschiedung am Morgen von den Eltern als auch beim Wickeln, beim Einschlafen, am Esstisch – gelte oft: „Da müssen die Kinder durch“. Manchmal aufgrund der empathielosen Haltung der Fachkräfte, manchmal auch schlichtweg aufgrund des unzumutbaren Personalschlüssels/Personalmangels und/oder des nicht zu bewältigenden Betreuungspensums.
Erfahrungsbeispiel
Die Sozialamtsmitarbeiterin berichtet: „Ein Junge mit Verhaltensauffälligkeiten schubst oder haut ständig andere Kinder. Die Erzieherinnen ziehen ihn am Arm aus den Situation oder schreien den Jungen an. Es folgt keine Einfühlung dem Jungen gegenüber, es folgen keine Erläuterungen, warum sein Verhalten nicht in Ordnung ist, es werden keine Strategien besprochen oder aufgezeigt, wie Wut losgelassen werden kann etc. Der Junge ist übergriffig und erfährt von seinen Erzieherinnen das Gleiche.“
Kindergarten
Ungehorsam der Kinder ende laut ihren Angaben nicht selten in Bestrafungen wie grob am Arm gepackt werden, angeschrien und grob ausgeschimpft werden. In vielen Fällen sei keine Zeit und/oder Empathie für Erklärungen, Moderation und konstruktive Lösungen von Konflikten. Oft werde Gehorsam verlangt, anstatt experimentelles, altersgerechtes Wachstum von gesundem Sozialverhalten zu begleiten.
Gehorsam werde zum Teil sogar erreicht durch Androhung von Essensentzug oder Isolation (Kinder würden zur Strafe in Garderobe geschickt). Auch von Stigmatisierung kranker Kinder, von Demütigungen durch abfällige Mimik/Gestik/Kommunikation schreibt die Mitarbeiterin des Sozialamtes.
Erfahrungsbeispiel zum Übergehen körperlicher Grenzen
Die Fachfrau berichtet: „Ein Mädchen mit Migrationshintergrund (in der deutschen Sprache noch nicht sicher unterwegs) hat Geburtstag und sitzt auf einem geschmückten Stuhl mit einer Krone auf dem Kopf. Alle Kinder sollen dem Mädchen gratulieren und es umarmen. Das Mädchen macht durch ihre Körperhaltung ziemlich deutlich, dass sie die Umarmungen nicht möchte und dreht sich weg und hat ihre Arme verschlossen vor ihrem Körper. Die Erzieherin reagiert nicht darauf und sie wird von allen Kindern umarmt. Ein weiteres Kind dieser Gruppe möchte das Mädchen nicht umarmen. Die Erzieherin geht hin und legt die Arme des Kindes um das Mädchen. Beiden Kindern ist die erzwungene Umarmung deutlich unangenehm. Beide Kinder sagen nichts und lassen es über sich ergehen.“
Erfahrungsbeispiele Erniedrigung
Auch Rassismus, Erniedrigung und Demütigungen seien problematisch:
„Ein Kind mit Migrationshintergrund greift beim Obstfrühstück nicht zu und möchte weder das Obst noch das Gemüse essen. Die Erzieherin ruft zur anderen (lautstark, sodass es alle Kinder hören können), die dem Kind den Teller hinhält: „Dem brauchst du nichts anbieten, gesundes Essen ist der nicht gewohnt und kennt der von zu Hause nicht. Der isst nie beim Obstfrühstück mit.“
Zwei Erzieherinnen unterhalten sich während der Essenssituation lautstark über die Verhaltensauffälligkeiten eines Kindes der Gruppe. Alle Kinder der Gruppe können dem Gespräch lauschen.“
Was die 31-Jährige in ihrem Bericht außerdem kritisiert, sind starre, alte Strukturen, wie das Festhalten am Mittagsschlaf für Kinder, die einfach nicht müde sind. In einem Fall sei trotz Beschwerden von Kindern, Eltern und trotz Vermittlung über das Sozialamt der Kindergarten nicht bereit gewesen, eine Wachgruppe einzuführen, und zwar nicht aus Personalgründen, sondern mit der Begründung: „Das haben wir schon immer so gemacht!“
Was sind die Ursachen?
Die 33-Jährige kritisiert in ihrem Bericht folgende Bedingungen als grundsätzlich ungünstig für die kindliche Entwicklung:
Struktur:
- viel zu knapper Betreuungsschlüssel und viel zu großen Gruppen
- fest eingefahrene und althergebrachte Strukturen
Haltung gegenüber dem Kind:
- fehlende Auseinandersetzung mit den neuesten Studien und Erkenntnissen zur frühkindlichen Entwicklung
- fehlende Anpassung an die jetzige Gesellschaft
- fehlendes Reflektieren zwischen Leitung und Personal
- Erwartungshaltung, dass die Kinder immer funktionieren müssen und alles ohne Widerstand mitzumachen haben
- fehlendes Durchsetzen und Einhalten von Kinderrechten in ALLEN Kindertageseinrichtungen
- fehlende Kommunikation mit den Kindern auf Augenhöhe
- fehlende Zeit oder Wissen für Einfühlung (Gefühle und/oder Bedürfnisse werden nicht benannt; die Kinder fühlen sich oft weder gesehen noch gehört), Beispiel: bei den Verabschiedungen der Eltern wird zu wenig auf die tatsächlichen Ängste und Sorgen der Kinder eingegangen
- Kinder werden oft nicht uns Erwachsenen als gleichwürdig betrachtet
- Androhung von Sanktionen, statt für Kinder logische Konsequenzen zu vermitteln, Kinder werden zu bestimmten Verhalten gezwungen, statt mit Erklärungen die Kinder abzuholen
Zeit-, Ressourcen- und Personalmangel:
- Überforderung/Überlastung der Fachkräfte
- zu wenig Elternarbeit
- ständiger Personalmangel
- fehlende Kontrollmechanismen, um Übergriffe und Gewalt den Kindern gegenüber erkennen zu können
- die Lautstärke in den Gruppen
- oft können schon Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden (besonders im Krippenbereich)
Fachkräftemangel als Hauptursache?
Ver.di prangert den alarmierenden Fachkräftemangel schon länger an, siehe z.B.:
https://www.verdi.de/themen/nachrichten/++co++7e221f0a-a7c2-11ed-81ca-001a4a16012a
Zitat hieraus: „Erzieherin Anette Krapp beschreibt […] ihren Alltag bei der Kita Elbkinder so: „Frustrierend ist, wenn du wegen der personellen Engpässe deinen eigenen pädagogischen Maßstäben nicht mehr gerecht werden kannst.“ Der Job sei „eigentlich ganz toll“, sagt die Erzieherin, sie arbeite gerne mit Kindern. „Wenn bloß die Bedingungen nicht gefühlt immer schlechter, das Personal immer weniger geworden wäre.““
https://publik.verdi.de/ausgabe-202301/total-ausgebrannt/
Hierin wird Dr. Elke Alsago zitiert, die erklärt, es fehlten aktuell rund 270.000 (!) Fachkräfte im Bundesgebiet. Sie sagt im Interview: „Bund, Länder und Kommunen müssen sagen, wie sie das bestehende System stabilisieren wollen. Wir brauchen einen gesamtgesellschaftlichen Blick mit einem Mix von Maßnahmen.“
Das Kind als Individuum
Diese Berichte und Zahlen schnüren mir die Kehle zu. Kinder müssen in ihrer Individualität und in ihren Bedürfnissen gesehen werden. Sollte das in einer modernen, wohlhabenden Gesellschaft wie unserer denn nicht möglich sein? Hapert es vorrangig an Ressourcen, wie zeitgemäßer pädagogischer Bildung und Personal?
Wir müssen als reife Erwachsene immer bedenken, dass manchmal auch die Kinder selbst in ihrem kleinen Alltag teils großen Herausforderungen entgegenstehen:
- Die kleine Ida ist im Kindergarten nicht UNMÖGLICH, weil sie die anderen Kinder angespuckt hat. Ihre Lebensumstände zu Hause sind UNMÖGLICH, weil ihre Eltern gerade im Rosenkrieg versinken und die Tochter gar nicht mehr richtig sehen.
- Der kleine Kurt ist nicht SCHWIERIG im Umgang mit den anderen Kindern, weil er sie schubst und tritt. Ihm platzt nur die Hutschnur, weil die Erzieherinnen sich wieder zwanzig SCHWIERIGE, unverständliche Regeln ausgedacht haben und seine Wut über die Großen muss irgendwo hin, sonst zerreißt es ihn.
- Und der schon recht große Jonathan ist nicht VERWEICHLICHT, weil er sich noch mit sechs morgens nicht von der Mama trennen kann, er will sie nur schützen, weil er Angst hat, dass Papa sie schlägt, wenn er sie alleine lässt.
Diese namentlich veränderten Bespiele sind leider nicht aus der Luft gegriffen, sondern spiegeln Erfahrungen aus meinem Praxisalltag wider.
Wertschätzung an alle engagierten Fachkräfte
Ich danke von Herzen allen pädagogischen Fachkräften, Küchen- und Reinigungskräften und HausmeisterInnen in Krippen, Kitas, Schulen, Horten etc., die sich täglich trotz Druck, Personalmangel, gesellschaftlichen Konventionen und allen weiteren Herausforderungen zumindest bemühen, das Kind als kleinen Menschen zu sehen und NICHT sein angeblich schlechtes Verhalten.
Die sich hinknien und nachfragen.
Die sich interessieren.
Die alte Erziehungsmodelle kritisch hinterfragen.
Die ihr Herz öffnen.
Ihr seid wahre Helden! Danke, dass es euch gibt.
Familien sind das Kernstück unserer Gesellschaft
Kinder sind unsere Zukunft.
Ich wünsche mir, dass das Bewusstsein darüber wächst. Ich wünsche jedem Kind, dass es eine glückliche Kitazeit voller Inspiration, Freundschaft, Abendteuer und Geborgenheit erfährt.
Herzensgrüße gehen raus von
Anne
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Isabella
Liebe Anne, deine Arbeit ist großartig und Artikel dieser Art fehlen! Danke Dir. Es schmerzt so sehr, dass es leider so oft genauso ist und in den Schulen geht es weiter…. Wir sprechen in unserer Arbeit im. Kopffüßler in München auch viel darüber, die Eltern sind oft entsetzt und fühlen sich manchmal nicht in der Position etwas anderes zu wählen, obwohl wir immer betonen, dass es auch anders geht, dass es anders gehen muss…
Wir brauchen Aufklärung, Wertschätzung und dringend mehr Menschen wie dich!
Alles Liebe,
Isabella
Jasmin
Dabke Anne für diese Beitrag. Ich finde den Dialog darüber ebenfalls sehr wichtig! Es ist erschreckend und gleichzeitig so traurig, weil ich die Arbeit in Kitas so wertvoll und wunderbar finde. Um diesen noch bestehenden Missständen ein bisschen entgegen zu wirken, gebe ich Fortbildungen für Fachkräfte und bin auch in der Kita meiner Söhne nicht still, wenn mir etwas auffällt.
Wir sollten das Thema in die Gesellschaft tragen und uns damit sehr kritisch auseinandersetzen ohne zu verurteilen!
Dr. Jale
Vielen Dank für diesen Beitrag. Er verwundert mich gar nicht. Gerade bei Profi-Pädagog*innen erlebe ich häufig, dass diese ihre Kinder bewusst nicht in die nächst verfügbare KiTa geben und sich ihre späteren „Familienerweiterungen“/Mitbetreuenden sehr bewusst auswählen.
Auch ich vermute wie Anne, dass das ein Thema ist, das einfach niemand gerne anpacken möchte, aus den genannten Gründen, aber eben vor allem auch aus wirtschaftlichen Aspekten
– es sollen ja beide Eltern möglichst vollzeitnah arbeiten
– es soll niemandem ein schlechtes Gewissen gemacht werden
– es soll alles möglichst nichts kosten
…
dass hier an der Zukunft Raubbau getrieben wird, auf Kosten der seelischen Gesundheit der Kinder, taucht leider in keiner Renditeausschüttung und in keinem Forbes-Ranking auf…
in dem Zusammenhang finde ich das Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ vom genialen Dr. Herbert Renz-Polster sehr spannend, in dem er aufzeigt, welche Flurschäden autoritaristische Denke über teils Generationen hinweg anrichten kann.
Noch deutlicher wird er in dem Buch „Die Kindheit ist unantastbar“, in dem er aufzeigt, wie sehr man Eltern zu jeder Zeit einreden konnte, dass seltsamerweise genau das für ihre Kinder am besten sei, was den Interessen der Mächtigen dient. Sei es Zucht und Ordnung für die künftigen preußischen Kanonenfutter oder heutzutage Kleine Forscher für den kompetitiven Arbeitsmarkt…
Ich finde es eine perverse Perfidie des Patriarchats, dass man Frauen dazu ihr eigenes Wohl (wie zB wirtschaftliche Unabhängigkeit) nur gewährt, wenn sie dafür ihre Kinder ans Messer liefern…
Renate
Liebe Anne,
vielen Dank für deinen ausführlichen Bericht. Er drückt aus, was ich selbst fühle.
Die beschriebenen Verhaltensweisen empfinde ich als absolut falsch. Und erschreckend, dass meine Eindrücke von einem Tag Hospitation scheinbar kein Einzelfall sind. Ich denke, in vielen Situationen kennen die Erziehungsberechtigten einfach keine Alternativen. Sicher auch mangels Weiterbildung und Selbstreflektion. Und wenden die „schon immer“ funktionierenden Techniken an.
Deshalb frage ich mich, ob es überhaupt Institutionen gibt, bei denen man sicher sein kann, dass sie „zeitgemäß“ erziehen?
Nach welchen Methoden müssten sie arbeiten, um präventiv traumasensibel zu sein und zeitgemäß?
Freu mich, wenn du dazu Antworten hast.
Liebe Grüße,
Renate