Verletzlichkeit: Warum sie wichtig ist und wie sie uns Eltern zu Menschen macht
Aus dem Alltag jeder zweiten Mama: Du funktionierst. Ununterbrochen. Du unterdrückst die Tränen, die so nötig wären. Du siehst nach außen wie eine glückliche Supermama aus und behauptest: „Ja, es läuft alles bestens.“
Vielleicht überspielst du deine Gefühle oder vielleicht fühlst du sie schon gar nicht mehr.
Wieso ist das überhaupt so? Weil alles, was du fühlen würdest, zu schmerzhaft wäre? Zu bedrohlich? Überwältigend? Manche Menschen, die (gerade in der frühen Kindheit) Schmerzhaftes erlebt haben, verschließen sich als Überlebensstrategie vor ihren Gefühlen – um nicht mehr verletzlich zu sein. Wie Siegfried aus den Nibelungenliedern. (Spoiler: Auch DER hatte einen wunden Punkt.)
Verletzlichkeit? Nein danke!
Indem wir versuchen, nicht mehr verletzlich zu sein, verschließen wir uns vor Nähe, vor Intimität, vor unseren Bedürfnissen, aber auch vor unserer Freude und dem Gefühl von Glück. Denn je mehr Angst wir vor Schmerz haben, desto weniger Freude, Glück und Verbundenheit können wir uns erlauben.
Charf, S. 233.
Oder um es allgemein zu verbildlichen: Unsere Gefühle haben kein Mischpult, sondern nur einen Lautstärkeregler – entweder fühlen wir alles intensiv oder alles nur sehr wenig bis gar nicht. Es ist unmöglich Schmerz leise zu regeln und gleichzeitig Freude und Verbundenheit „laut zu hören“.
Sorry, Freunde. Aber that’s life.
Gleiches gilt auch für dein Kind: Wir können nicht erwarten, dass es Tränen herunterschluckt und parallel ein glückliches, lachendes Bullerbü-Kind ist. Es geht nur alles oder nichts. Wie du die großen, schmerzhaften Emotionen deines Kindes sicher begleiten kannst, erfährst du in diesem Artikel: Vom richtigen Umgang mit großen Gefühlen.
Geben wir unsere Verletzlichkeit auf, verlieren wir damit auch unsere Berührbarkeit. Wir verschließen unser Herz und unseren Körper für uns selbst und die Welt. Scham und die Furcht vor Verletzung hindern uns daran, unser Leben zu leben und unsere Potenziale zur Entfaltung zu bringen, weil die Angst vor Bewertung und Zurückweisung so tief in uns verankert ist.
Charf, S. 233.
Die saucoole Selfiestick-Generation – so cool, dahinter schneit’s!
Sich selbst hart zu machen, seine Gefühle zu unterdrücken und unangreifbar und cool zu geben, ist gesellschaftlich gesehen hoch im Kurs. Sich verletzlich, authentisch und offen zu zeigen hingegen nicht. Stattdessen zählt in der Welt der individuellen, digitalen Selbstdarstellung das Credo: „Schaut her, ich bin am erfolgreichsten, am schönsten, am coolsten, am besten, am …“ Ja. Klar. Hello, Selfiestick-Generation!
Depressionen und Suizide unter Jugendlichen nehmen seit dem Boom der (a)sozialen Medien immer weiter zu. Ein auf die Spitze getriebener Individualismus verhindert, dass wir gut mit uns selbst und den Mitmenschen in Kontakt gehen können. Denn dazu bräuchte es mehr Authentizität. Vor allem offline. Ohne sie können wir (um mit Hartmut Rosa zu sprechen) nicht in Resonanz mit unserer Umwelt gehen. Wir schwingen nicht. Ergo: Es braucht Verletzlichkeit. Es braucht Schwächen. Sie sind der Kitt zwischen zwei Menschen. Der Kitt, der unsere Beziehungen zusammenhält. Dann passen auch Wertschätzung, Zuneigung und Anerkennung rein. Try it.
Glaubenssätze und Überlebensstrategien
Je weniger wir uns wirklich fühlen, je weniger verletzlich und echt wir sein können, umso mehr Ersatz brauchen wir: Konsumdinge, Leistung, digitale Anerkennung etc. Ein elender Teufelskreis!
Häufig ist der Entschluss, sich innerlich abzuhärten, eine unbewusste Entscheidung, die lange zurückliegt und inzwischen zum Selbstläufer geworden ist. Du trägst vielleicht Glaubenssätze in dir wie: „Ich muss stark sein.“, „Ich bin auf mich allein gestellt.“ oder „Fühlen tut weh.“ Die nimmst du nicht bewusst wahr, aber sie laufen wie ein automatisches Programm ab und beeinflussen dein ganzes Leben.
Aber wer nicht mehr verletzt werden kann, ist kein Mensch mehr, sondern nur eine Maschine. […] In unserer Verletzlichkeit liegen unsere Menschlichkeit, unsere Liebe, unsere Tränen, unsere Kraft und unser Mut.
Charf, S. 235.
Anmerkung: Verletzlich sein ist nicht gleichbedeutend mit ausgeliefert sein. Sich hingeben und authentisch sein, ist letztlich nur dann möglich, wenn wir uns unserer Fähigkeit sicher sein können, dass wir sichere Grenzen setzen können. Seine Grenzen kennen und verteidigen können, ist also die Voraussetzung. Viele Menschen haben mit beidem ein Problem. Das ist schade. Denn loslassen und unbeschwert leben – kannst du so nicht.
Schwach ist das neue Stark
Die größte Stärke ist es manchmal, ganz schwach zu sein. Das zuzugeben. Hilfe anzunehmen.
Zum Mitschreiben: Du bist wertvoll. Auch wenn du verletzlich, schwach oder bedürftig bist.
Und nun: Wie geht es dir? Wann war deine letzte Pause? Wann hast du dich zuletzt innerlich mal selbst umarmt? Tu’s gleich mal.
Ich grüße dich herzlich,
Deine Anne
Literatur:
Gefühle, Gefühlsstau, Glaubenssätze, Überlebensstrategie, Verletzlichkeit