An den frisch gebackenen Papa im Wochenbett: Was deine Partnerin jetzt braucht
Merkst du was? Im Wochenbett ist nichts mehr, wie es war. Plötzlich ist dieses kleine Menschlein Mittelpunkt eurer neuen Familie. Deine Partnerin ist reizbar. Ständig stört sie etwas. Ihr streitet euch öfter. Sie heult?
Dann kommt hier ein bisschen erste Hilfe: nämlich eine Anleitung, wie du sie jetzt unterstützen kannst.
(Vorweg: „Väter“ darf hier als Symbolbegriff verstanden werden. Für gleichgeschlechtliche Beziehungen sind entsprechend auch die Partnerinnen gemeint, die die biologische Mutter nach der Geburt unterstützen. Für sie könnte auch Teil drei der Reihe interessant sein.)
Hier erfährst du:
- Wie sich das Empfinden von Mama und Papa unterscheidet
- Was die frisch gebackene Mutter von dir braucht
- Das ultimative Papa-Survival-Starter-Kit
- Was sich für euch als Paar mit Kind nun ändert
- Wie ihr besser miteinander kommuniziert
- und die Gewissheit: Es wird besser werden. ♥
Wie unterscheidet sich das Erleben von Mutter und Vater?
Erleben Mama und Papa das Gleiche? Nein. Auch wenn du einfühlsam und bemüht bist, dich genauso riesig auf dein Kind freust. In dieser Intensität wirst du die Entstehung eurer Familie, eure Geburt als neue Lebensgemeinschaft nicht erleben. Ganz einfach aus nicht zu leugnenden biologischen Gründen:
Dein Körper bleibt (annähernd) unverändert. Du reißt nicht, du erlebst die Schmerzen nicht. Dein Spiegelbild und dein Kleiderschrank bleiben konstant. Klingt banal – ist aber gravierend.
Der Körper der neuen Mutter erlebt unglaubliche Höhen und Tiefen. Die Hormone beeinträchtigen ihre Persönlichkeit, ihre Gesundheit und ihr Äußeres auf unvorstellbare Weise. Ihr Immunsystem ist geschwächt. Ihr Körper wird vereinnahmt durch ein fremdes Wesen. Sie nimmt dramatisch an Gewicht zu und wieder ab. Sie kann sich schlecht bewegen, was ihren kompletten Alltag beeinflusst. Vielleicht quält sie sich mit allerlei Beschwerden durch die Schwangerschaft, die ihren sozialen Austausch beeinträchtigen. Möglicherweise behält ihre Seele Schatten von Grenzerfahrungen oder Verletzungen während der Geburt zurück.
All das berührt die Psyche einer Frau in vorher nie gekanntem Ausmaß.
Wenn auch der Körper durch die Geburt nicht gerissen ist – die Seele ist es doch.
Klar ist Elternschaft für beide Partner ein ganz neues Kapitel. Das Vaterwerden verändert. Vaterwerden ist wie ein neues Level im Leben. Vaterwerden ist unumkehrbar.
Eine Lebenskrise
Aber für die gebärende Frau sind Schwangerschaft, Geburt und das Mutterwerden an sich körperliche und seelische Grenzerfahrungen. Sogar eine zentrale Lebenskrise. Eine gewaltige Chance.
Die Erfahrung des [körperlichen und seelischen] Reißens bleibt ein Privileg der Frauen. Und sie verändert sie für immer.
Erchova, S. 132.
Als Vater erlebst du nun das Wochenbett an der Seite deines Kindes und deiner Frau mit. Du erlebst hautnah die Veränderung deiner Partnerin. Wie sie sich verwandelt von Frau zu Frau und Mutter. Eine bewegende Zeit voller Widersprüche – unfassbare Freude, tiefste Sorge und Verzweiflung und manchmal auch die reinste Hölle. In manchen Momenten alles zugleich.
Jetzt ist deine Fähigkeit gefragt, den Gefühlen deiner Partnerin einfühlsam und angemessen Raum zu geben. Ohne selber durchzudrehen.
Das Wochenbett ist die vielleicht verrückteste Zeit im Leben einer Frau. Und auch wenn später nach und nach ein neues Geschlechtergleichgewicht austariert werden kann, ist der Beginn eurer Familienzeit doch von einem neuen Ungleichgewicht gekennzeichnet:
[Der Vater] behält seine Freizeit – ein kostbares Gut, um das es viel Streit gibt. Frauen beneiden ihre Männer dafür, dass diese allein aus dem Haus gehen können und Zeit ganz für sich haben. Während sie sich nicht einmal erlauben können, zur Toilette zu gehen und die Tür hinter sich zu schließen. […] Außerdem muss der Vater nicht die ganze Zeit geben, auch wenn es ihm vielleicht so vorkommt. Wir alle tun für die Familie das Maximum dessen, was in unseren Kräften steht. Die väterlichen seelischen Ressourcen werden nicht so extrem auf den Prüfstand gestellt wie die der Frau. Wenn sie stillt, stellt sie ihren Körper Tag und Nacht zur Verfügung. Sie gibt Wärme, Schutz, Energie, Kraft, Aufmerksamkeit, ihre gute Laune und ihre ganze Liebe für das Kind. Sie gibt alles, was sie vorher war, auf und muss sich komplett neu erfinden.
Erchova, S. 134.
Mit der Geburt entsteht eine neue Familie
Man sagt in Afrika, es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Über dieses Sprichwort ist schon viel geschrieben worden. Auch von mir in: Artgerechtes Leben als Familie. Die Kurzversion ist: Elternschaft ist eine schwere Aufgabe. Wenn wir sie so bewältigen und auch genießen wollen, dass es allen in der Familie gut geht, dann brauchen wir Strukturen und Mitmenschen, die uns unterstützen. Wir brauchen sowohl praktische Unterstützung als auch – und das besonders im Wochenbett – emotionale Hilfe: Verständnis, Zuspruch, Motivation und ehrliche Anteilnahme für alle Aufregung, die der neue Lebensabschnitt mit sich bringt. Erchova bezeichnet Elternschaft als eine Krise, die man nicht allein durchstehen kann. (Vgl. Erchova, S. 158.)
Gebt euch die Zeit, die liebevolle Nachsicht mit euch selbst und das Vertrauen, dass es sechs bis acht Wochen braucht, bis die Geburt der Familie abgeschlossen ist, die Routinen sich eingespielt haben und das Leben sich wieder leicht und locker anfühlt. Das kommt wieder. Versprochen. ♥
Sucht euch ehrliche andere Eltern, die ihre Erfahrungen mit der ersten aufwühlenden Zeit offen zu teilen bereit sind. Denn wenn ihr euch mit Überforderung, Streit und Schlafentzug alleine fühlt, dann könnt ihr auch im Menschengetümmel sehr schnell sehr einsam sein. Und das ist für die ganze Familie kontraproduktiv. Ein Netzwerk aus authentischen, offenen Mitmenschen gibt dagegen Kraft, Selbstvertrauen und Zuversicht.
Was die frisch gebackene Mama von dir braucht
Im Wochenbett muss […] nicht das Baby direkt, sondern vor allem die junge Mutter unterstützt werden. Man schützt das Baby, indem man die Mutter stärkt. Wenn diese genug praktische wie emotionale Unterstützung erfährt, kann sie gut für ihr Baby sorgen. Alles, was die junge Mutter gefährdet, was sie emotional destabilisiert oder verunsichert, schadet dagegen automatisch dem Kind.
Erchova, S. 160.
Das Allerwichtigste und Beste, was du für dein Kind tun kannst, ist daher deine Partnerin zu stärken. Schenk ihr Vertrauen in ihre Kompetenz als Mutter. Sie braucht die Zuversicht, dass sie die beste Mutter dieser Welt für euer Baby ist.
Ein paar Merksätze:
Eine frisch gebackene Mama kann Kritik, Bevormundung oder Zweifel absolut nicht gebrauchen. Wenn sie Entscheidungen trifft, die nach außen vielleicht schwer zu verstehen sind, ist Kritik von Angehörigen zum Teil verheerend. Schütze sie vor bissigen Kommentaren, gut gemeinten Ratschlägen und lästiger Besserwisserei. Die Wöchnerin ist sehr sensibel. Jedes Missverständnis, jede verletzende Kritik, jede zusätzliche Sorge schaden am Ende eurem Kind.
Euer Kind braucht Stabilität. Und die gewinnt es vor allem durch eine selbstbewusste, zufriedene Mama, die sich mit ihrem Baby den tiefen Gewässern des Wochenbetts hingeben und abtauchen kann.
Beängstigendes Gefühlschaos?
Und in dieser ambivalenten Gefühlswelt braucht sie vor allem die Erlaubnis, alle gemischten Gefühle zu äußern. Ohne verurteilt zu werden. Ohne ein Tabu auf sich zu fühlen. Ohne Angst, dafür abgelehnt zu werden.
Ja, die Gefühle im Wochenbett können ein Schock sein. Die überwältigende Liebe, die man erwartet hat, kann erst mal ausbleiben. Es kann Enttäuschung da sein. Schmerz über die Geburt, die vielleicht so anders als erträumt abgelaufen ist. Vielleicht fällt unter Schlafmangel im Wahnsinn des neuen Lebens auch so manches hässliche Wort über sich oder euer Kind.
Das kann sein. Das ist nicht falsch oder krank oder kriminell. Das sind einfach die ersten verrückten Wochen. Seht sie als Chance, euch neu und besser kennenzulernen. Mit Kind hört das ab sofort auch nicht mehr auf, dieses sich neu und immer besser kennenlernen. Das ist ein Geschenk. ♥
Nörgelt deine Frau darüber, wie du euer Baby trägst, wickelst, ggf. das Fläschchen gibst? Keine Sorge, es liegt nicht daran, dass sie es besser kann. Der Grund für die Nörgelei kann sehr wohl sein, dass sie emotional mehr von dir unterstützt werden möchte. Wie geht das? Schon ein liebes Wort, eine sehr feste Umarmung oder authentische Anerkennung können Wunder wirken. Wertschätze ihre Kraft und respektiere ihren Einsatz für euer Baby. Das wird der ganzen Familie gut tun.
Papa-Survival-Starter-Kit
Das lass unbedingt sein:
- belächeln
- kritisieren
- niedermachen, abwerten
Oder ganz verheerend:
- verlangen, die neue Mutter möge sich zusammenreißen und so sein wie früher.
Wenn du das machst, zwei Möglichkeiten: Entweder LAUF UM DEIN LEBEN oder stell dich darauf ein, dass der seelische Zustand von Mama und Kind noch mehr bröckelt. (Je nach Temperament deiner Partnerin.)
Was du täglich tun solltest (Dieser Tipp ist absolut idiotensicher in der Anwendung, versprochen):
- Frage sie: Wie geht es dir? Und
- Was kann ich für dich tun?
Ihr lebt nicht artgerecht
Wenn sich die neue Situation für euch drei schwierig anfühlt, lass dir sagen: Das ist kein Versagen. Die moderne Kleinfamilie aus Mama, Papa, Kind ist aus Sicht der Evolution schlichtweg ein denkbar ungünstiges Modell. Der Homo sapiens zieht in artgerechtem Umfeld seine Kinder gemeinsam in der Gruppe auf. [Vgl. Herbert Renz-Polster: Born to be wild*]
Du und deine Partnerin, ihr seid drastisch gesprochen, zu wenige und dann noch unerfahrene Menschen, um die Belastung dieser neuen Situation alleine aufzufangen. Artgerecht hieße, die ganze Gemeinschaft unterstützt euch.
Die jungen Eltern navigieren orientierungslos im unbekannten Meer der Elternschaft – eine Mutter ohne inneren Leitfaden für das Muttersein inmitten der größten Krise ihres Lebens und ein Vater, der nicht weiß, wie er sich einbringen soll.
Erchova, S. 169.
Kommunikation als Elternpaar
Was eure Lage deutlich verbessern kann, ist gute Kommunikation. Wirksame Kommunikation folgt zwei Regeln:
- werde dir deiner Gefühle bewusst (Wie geht es mir?)
- vermittle deinen Wunsch (Was will ich?)
Beispiele: Ich fühle mich nicht gewertschätzt und wünsche mir mehr Anerkennung./ Ich bin total verletzt, ich will, dass du respektvoller mit mir sprichst./ Ich bin einsam und wünsche mir, dass du mich in den Arm nimmst./ Ich fühle mich so unwohl in dem Chaos, ich hätte gerne eine Lösung, damit es hier ordentlicher ist./ Ich fühle mich hintergangen und will, dass du ehrlich bist.
Anstatt: Du bist unmöglich!/ Du lügst doch schon wieder!/ Dein Scheißchaos macht mich krank!/ Du denkst wohl, du bist der/ die einzige, der sich bemüht!/ Immer muss ich diesen Mist alleine machen!/ Danke für nichts …
Wie ihr konstruktiv streiten könnt, ohne eurem Kind zu schaden? Das erfahrt ihr ausführlich mit Tipps von Philippa Perry hier: Elternstreit.
Ansonsten sei dir klar darüber:
Wenn wir uns selbst nicht kennen und verstehen, dann schreiben wir die Schuld für das eigene Leid den anderen zu.
Erchova, S. 170.
Eine große Chance
Das Elternsein ist die allerschönste Chance, sich wirklich selbst kennenzulernen. Unsere Kinder sind unsere mit Abstand besten Lehrmeister. Sie bringen uns auf den Boden der Realität zurück. Sie bringen uns in Kontakt mit uns selbst. Sie triggern unsere früheren Erfahrungen wie niemand sonst.
Hier, im Wochenbett, beginnt das Lernen, Kennenlernen und Aufwachen. Nutze die Chance. ♥ Die Geburt des ersten Kindes zeigt euch in der Beziehung alles auf, was vorher noch im Unsichtbaren waberte. Jetzt im „Krisenfall“ ploppt bildlich gesprochen das Kleingedruckte eures Vertrages hoch. Das bisher unbewusste Familiengeflecht zeigt sich.
Die Beziehung fühlt sich anders an?
Für eure Beziehung kann es bedeuten: dass ihr euch auf eine Weise kennenlernt, wie ihr es nie für möglich gehalten habt. Im schlimmsten Fall reflektiert ihr euch nicht. Sondern beballert den anderen mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen. Das ist eine Überlebensstrategie, um die Augen vor euren Abgründen zu verschließen. Im besten Fall hebt ihr eure Beziehung auf ein ganz neues Level, indem ihr einander und euch einzeln besser kennen und lieben lernt.
Verletzte Menschen, die sich ihrer Verletzung nicht bewusst sind, tun und sagen Dinge, die mit der Realität nichts zu tun haben, merken es aber natürlich nicht. […] Unbewusste Gefühle sind der Nährstoff für Vorwürfe. „Du kümmerst dich nicht um dein Kind!“ meint in Wirklichkeit: „Du kümmerst dich zu wenig um mich.“ Oder eher: „Ich fühle mich zu wenig umsorgt.“ Die letzte Formulierung würde die eigene Bedürftigkeit entblößen.“
Erchova, S. 170.
Bloß keine Schwäche zeigen?
Seid beide mutig, euch euren Schwächen und Bedürfnissen zu stellen – so sind sie viel, viel leichter zu kurieren.
Klar: Statt die eigene Überforderung einzugestehen, lässt sich der Partner mit seinen Unzulänglichkeiten natürlich viel einfacher kritisieren. Sich selbst entlasten, indem man dem anderen die Schuld zuweist. Ja …
Problem: Das geht nicht lange gut.
Traut euch deshalb, offen zu sein.
Beispiel:
Kann sein, sie sagt dir: „Du kommst so spät von der Arbeit! Alles andere ist dir wichtiger als wir! Du interessierst dich kein bisschen dafür, wie es mir geht!“ Klar, dass du hier mit Defensive zurückschießen willst. So ein Gespräch verhärtet die Fronten. Ich lade dich aber ein, das nicht persönlich zu nehmen, sondern dich auf die Suche nach ihren wahren Bedürfnissen zu begeben.
Die könnten in Ich-Botschaften sein: „Den ganzen Tag hocken das Baby und ich hier einsam rum. Es braucht so viel Aufmerksamkeit und Liebe. Andauernd will es gestillt oder umhergetragen werden. Zum Schlafen kann ich es kaum ablegen, dann wacht es wieder auf. Ich komme nicht dazu, etwas im Haushalt zu erledigen – oder für mich! Der Tag kommt mir ewig lang vor. Ich sehne mich danach, dass du heimkommst und mich unterstützt. Ich will so gerne einfach duschen gehen, mich mit dir austauschen, loslassen können. Wenn du dich verspätest, ziehen sich die Minuten für mich wie Gummi. Ich halte es kaum aus …“
Haltet durch ♥
Wir alle brauchen Mitgefühl und suchen nach gemeinsamen Lösungen. Ihr werdet sie finden. ♥
Haltet durch in diesen ersten Wochen. Und von Herzen meine Glückwünsche zur Geburt eures Kindes und zur Geburt eurer neuen Familie.
Alles Liebe
Anne
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PPS: Dieser Beitrag ist Teil 2 meiner Wochenbett-Reihe. Hier gibt es Teil 1 des Artikels für die neue Mama im Wochenbett: Chaos, Tränen, neue Welt: Vorbereitung aufs Wochenbett. Teil 3 richtet sich an die Mutter der Wöchnerin: An die frisch gebackene Oma: Was deine Tochter im Wochenbett braucht. Und in Teil 4 hat das Neugeborene an seine Eltern eine wichtige Botschaft. Letzterer ist noch in se mejking. Trag dich gerne weiter unten in den Newsletter ein, um seine Veröffentlichung nicht zu verpassen.
Literatur:
Eltern, Gefühle im Wochenbett, Partnerschaft, Streit unter Eltern, Wochenbett